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Sprechen lernen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
DuMont Buchverlag GmbHerschienen am15.08.20231. Auflage
In >Sprechen lernenWölfeFalkenVon Geist und GeisternSpiegel und Licht< (2020).mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextIn >Sprechen lernenWölfeFalkenVon Geist und GeisternSpiegel und Licht< (2020).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783832160715
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum15.08.2023
Auflage1. Auflage
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.11595806
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


King Billy ist ein Gentleman

 

Ich bekomme den Ort nicht aus dem Kopf, an dem ich geboren wurde, direkt außerhalb der sich windenden Tentakel der Stadt. Wir waren zu nahe dran, um ein eigenes Leben zu entwickeln. Es gab eine regelmäßige Zugverbindung - keine von denen, wo du auf der Lauer liegen und genaue Gewohnheiten studieren musstest. Aber wir mochten die Leute aus Manchester nicht. »Städter, untersetzt und voller Tücke«, so sahen wir sie wohl. Wir spotteten über ihren Arbeiterakzent und bemitleideten sie für ihren Körperbau. Meine Mutter, eine stramme Lamarckistin, war überzeugt, dass die in Manchester unverhältnismäßig lange Arme hatten, weil sie seit Generationen an Webstühlen arbeiteten. Bis (aber das war später) eine rosa Siedlung aus dem Boden gestampft und sie zu Hunderten dorthin verpflanzt wurden, wie Bäume, die zu Weihnachten ausgemacht und mit den Wurzeln in kochendes Wasser getaucht werden - nun, bis dahin hatten wir nicht viel mit den Leuten aus der Stadt zu tun. Und doch, wenn Sie mich fragen, ob ich ein Junge vom Land war: Nein, war ich nicht. Unsere Ansammlung Stein und Schiefer, gezeichnet von rauen Winden und derben Klatschmäulern, das war nicht das ländliche England mit Morris-Tanz, gegenseitiger Verbundenheit und gutem altem Ale. Es war ein kaputter, steriler Ort ohne Bäume, wie ein Durchgangslager, mit der gleichen hoffnungslosen Dauerhaftigkeit, die solche Lager anzunehmen pflegen. Der Schnee blieb bis April in den Höhenlagen ringsum liegen.

Wir wohnten oben im Ort, in einem Haus, in dem es meiner Meinung nach spukte. Mein Vater war verschwunden, und vielleicht war es seine Gegenwart, schlaksig und bleich, die unter der Tür durchstrich und dem Terrier die Nackenhaare aufstellte. Von Beruf war er Büroangestellter gewesen. Kreuzworträtsel waren sein Hobby, und ein bisschen Angeln. Er mochte einfache Kartenspiele und seine Zigarettenbilder-Sammlung. An einem stürmischen Märzmorgen um zehn ist er gegangen, hat seine Alben mitgenommen und seinen Tweedmantel. Seine Unterwäsche hat er dagelassen. Meine Mutter hat sie gewaschen und einem Wohltätigkeitsbasar vermacht. Wir haben ihn nicht sehr vermisst, nur die kleinen Melodien, die er auf dem Klavier gespielt hat, wieder und wieder. Wie den Pineapple Rag.

Dann kam der Untermieter. Er war von weiter nördlich, ein Mann mit langen, gedehnten Vokalen, die aus Worten eine große Sache machten, die bei uns schnell durch waren. Er war cholerisch, seine Toleranzschwelle niedrig. Sehr, sehr unberechenbar. Wolltest du wissen, was kam, musstest du ihn sorgfältig beobachten, ganz ruhig und die Intuition geschärft. Als ich älter wurde, begann ich mich für Ornithologie zu interessieren und nutzte die Erfahrung, die ich mit ihm gemacht hatte. Aber das kam später. Im Ort gab es keine Vögel, nur Spatzen und Stare, und eine verrufene Truppe Tauben, die durch die engen Straßen stolzierte.

Der Untermieter zeigte Interesse an mir und holte mich aus dem Haus, um einen Fußball hin und her zu kicken. Aber ich war nicht der Typ dafür, und sosehr ich ihm gefallen wollte, mir fehlte das Talent. Der Ball rutschte mir zwischen den Füßen durch, als wäre er ein kleines Tier, und mein atemloses Husten klang beunruhigend. Schlappschwanz, sagte der Untermieter, sagte es aber mit Angst im Gesicht. Bald schon schien er mich abzuschreiben. Ich hatte das Gefühl, ihm lästig zu sein. Ich ging früh ins Bett, lag wach und lauschte dem Gepolter und Geschrei unten, denn der Untermieter brauchte Streit, genauso wie er sein Frühstück brauchte. Der Terrier fing an zu jaulen und zu kläffen, um den Streithähnen Gesellschaft zu leisten, und später hörte ich meine Mutter nach oben laufen und leise vor sich hin schniefen. Sie wollte den Untermieter nicht gehen lassen, ich wusste, sie hatte ihn sich in den Kopf gesetzt. In seinen Lohntüten brachte er mehr Geld ins Haus, als wir je gehabt hatten, und während er erst nur die Miete zahlte, legte er bald schon die ganze Tüte auf den Tisch - meine Mutter öffnete sie mit spitzen Fingern und gab ihm ein paar Shilling für Bier und was immer die Männer ihrer Meinung nach brauchten. Er bekam einen Bonus, erklärte sie mir, er wurde zum Vorarbeiter gemacht, er war unsere Chance im Leben. Wäre ich ein Mädchen gewesen, hätte sie mir mehr anvertraut. Aber ich begriff schon, was da vorging. Still lag ich wach, als keine Schritte mehr zu hören waren, der Hund verstummt war und die Schatten zurück in die Ecken des Zimmers krochen. Ich döste dahin, wünschte, von Geistern frei zu sein und dass die Jahre in einer Nacht vergingen, sodass ich am Morgen als Mann aufwachte. Ich schlummerte ein und träumte, eines Tages würde sich in der Wand eine Tür auftun, und ich träte hindurch und würde im Land dahinter der asthmatische kleine König sein, ein König in einem Land, in dem es ein Gesetz gegen Streit gab. Doch dann, im wirklichen Leben, wurde es hell, ein Samstag vielleicht, und ich musste im Garten spielen.

Die Gärten der Häuser waren lange schmale Streifen, die hinter maroden Zäunen in graue Kuhfladenfelder übergingen. Hinter den Feldern lagen Moore, stiller, stählerner Schlick - und die dunkelgrünen Nadelbäume und das klare Licht der Büros der Forstwirtschaftsbehörde. Wenig wuchs in unseren Gärten: Scheuergras, ein Gewirr aus verkümmertem Gebüsch, eingegrenzt von ameisenzerfressenen Zaunpfählen und einsamen Drahtenden. Ich ging bis ans Ende des Gartens und zog rostige Nägel aus dem verrottenden Holz. Ich riss die Blätter vom Fliederbaum, roch am grünen Blut auf meinen Händen und dachte über meine Situation nach, die sonderbar war.

Bob und seine Familie waren früh schon aus der Stadt ins Haus neben uns gezogen, da waren sie als Aussiedler noch eine Ausnahme. Vielleicht erklärte das Bobs Haltung seinem Garten gegenüber. Während wir misstrauisch die Handvoll wurmstichiger Himbeeren betrachteten, die unser auf sich gestelltes Stück Land hervorbrachte, die erbärmlichen Lupinen, die ihre Samen ausstreuten, während unser wuchernder Rhabarber nie geschnitten und zu Kompott verarbeitet wurde, umzäunte Bob seinen Garten wie das Allerheiligste der menschlichen Seele: als hütete er den Heiligen Gral in seinem Gewächshaus, und auf der Kuhfladenwiese johlten und wüteten die Vandalen. Bobs Garten war militärisches Sperrgebiet, alles korrekt, das Terrain kannte seinen Herrn. Das Leben wuchs in Reihen, gelangte aus Tüten in die Erde, spross punktgenau in die Höhe und erwartete strammstehend Bobbys Inspektion. Unbenutzte Blumentöpfe standen helmgleich in Stapeln, Stöcke reckten sich wie Bajonette. Jeden Quadratzentimeter seines Grundstücks hatte Bob in Besitz genommen und gesichert. Er war ein hagerer Mann mit einem mächtigen Kinn und leeren blauen Augen. Er aß niemals weißen Zucker, nur braunen.

Eines Tages ereiferte sich Myra, seine Frau, vom Zaun aus über das unmoralische Leben, das meine Mutter führe, machte wirr und unzusammenhängend ihrer lange aufgestauten Wut darüber Luft, dass meine Mutter ihren Kindern und denen in den Gärten ringsum ein schlechtes Beispiel gebe. Ich war acht Jahre alt. Ich fixierte sie mit meinem durchdringendsten Blick, in meinem Mund explodierten gewalttätige Worte und wirbelten blutig wie ausgeschlagene Zähne in ihm herum. Ich wollte sagen, dass die Kinder hier - und ihre ganz besonders - sowieso völlig beispiellos waren. Meine Mutter, gegen die sich die Tirade richtete, stand langsam von dem Stuhl auf, auf dem sie sich gesonnt hatte, sah Myra kurz unbeteiligt an und ging schweigend ins Haus, worauf ihrer Nachbarin nichts blieb, als sich wie ein verrückt gewordener Wellensittich gegen Bobs guten Zaun zu werfen. Myra war klein, ein rattengesichtiges, erbärmliches Nichts, nicht mehr als ein namenloses Stück Fleisch im Fenster eines Metzgers in einem Abrissgebiet. So, wie Mutter es sah, hingen ihr die Arme bis tief unter die Knie.

Ich glaube, erst waren sich unsere beiden Haushalte ziemlich freundlich gesonnen. Aber dann wurde Bob mit seinen Manien (hab neun Reihen Bohnen, ein Bienenvolk, das brummt) zunehmend zur Zielscheibe unseres heimlichen Gekichers. Er schlich sich abends in den Garten, um vom seinem Fleischstück Frau wegzukommen, und wenn seine geheimnisvolle Arbeit getan war, sein Bohren und Pflügen, stand er am Zaun, hob den glanzlosen Blick zu den Höhen ringsum, die Hände in den Taschen, und pfiff eine tonlose, schwermütige Melodie. Von unserem Küchenfenster konnte man ihn noch gerade so durch den feuchtkalten Abendnebel erkennen, der in jenen Jahren das Klima bestimmte. Dann zog meine Mutter die Vorhänge zu, stellte den Kessel aufs Gas und beklagte ihr Leben. Und sie lachte über Bobby-Boy und fragte sich, welcher Schaden wohl angerichtet werden würde, bevor er tags darauf wieder dort stand.

Denn Bobs Zaun war nicht sicher. Er war aufwendig, ausgeklügelt, man könnte sagen äußerst angespannt, wenn das auch eine etwas seltsame Charakterisierung eines Zaunes ist. Er war wie Stendhal im Regal der Dorfbibliothek: beeindruckend, taugte aber für nichts, das uns betraf. Die Kühe kamen rein, wir sahen sie, wie sie sich in der Morgen- oder Abenddämmerung leise herantasteten und Bobs schmucke Riegel mit den Köpfen anhoben. Hereingetrampelt kamen sie, schlürften und zerkauten seine wohlschmeckenden Früchte, befriedigten jeden ihrer vier Mägen, die nachdenklichen Augen erfüllt von einer stillen Freude über die Gerechtigkeit des Ganzen.

Aber Bob glaubte nicht an Rinderintelligenz. Er verprügelte seinen Sohn Philip, weil er das Tor offen gelassen hatte. Hinter unseren steinernen Mauern hörten wir, wie sich Bobs wirre Leidenschaft Bahn brach, hörten die wilden Ausbrüche von Trauer und Verzweiflung über den Verlust seiner...
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