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Fräulein Gloria geht baden

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
201 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am02.03.20151. Auflage
Die unscheinbare Gloria hat sich längst daran gewöhnt, übersehen zu werden. Daß nun ein Spanner ausgerechnet sie beobachtet, gibt ihr zu denken. Als dann ein Schuß an ihrem Kopf vorbeizischt und eine Bombe in ihrem Büro explodiert, beginnt sie, die Dinge auf sich zu beziehen. Und behält recht ... Ein Roman voll subtiler Spannung mit einem eiskalten Ende. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Maria Benedickt, Jahrgang 1958, Redakteurin einer Fachzeitschrift für Touristik. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen von ihr u.a.: ?Ein Hund in Teufels Küche?, ?Blutrotes Passepartout? und ?Gefährliche Träume?.
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Produkt

KlappentextDie unscheinbare Gloria hat sich längst daran gewöhnt, übersehen zu werden. Daß nun ein Spanner ausgerechnet sie beobachtet, gibt ihr zu denken. Als dann ein Schuß an ihrem Kopf vorbeizischt und eine Bombe in ihrem Büro explodiert, beginnt sie, die Dinge auf sich zu beziehen. Und behält recht ... Ein Roman voll subtiler Spannung mit einem eiskalten Ende. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Maria Benedickt, Jahrgang 1958, Redakteurin einer Fachzeitschrift für Touristik. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen von ihr u.a.: ?Ein Hund in Teufels Küche?, ?Blutrotes Passepartout? und ?Gefährliche Träume?.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105600306
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum02.03.2015
Auflage1. Auflage
Seiten201 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse792 Kbytes
Artikel-Nr.1591192
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Donnerstag

Es fängt schon wieder an. Ich hinke wieder. Ohne es zu merken, noch dazu. Erst als ich im Büro auf den Wandschrank zuging, um neues Faxpapier zu holen, erkannte ich im Spiegel der Schranktüren das Hinken von Frau Meisel, vorgeführt von mir. Ihr weiches Einknicken in der Hüfte, wenn sie den rechten Fuß aufsetzt.

Ich erstarrte vor meinem Spiegelbild, unfähig, mich zu bewegen. Konnte keinen Schritt mehr machen, weder hinkend noch normal.

Ich war allein in der Rezeption, alle Kollegen in den Büros verteilt. Ich stand da, minutenlang, mit leerem, widerhallendem Kopf, bis ich Schritte aus dem Korridor kommen hörte, Schritte und Stimmen.

Ich lief zurück zu meinem Pult, wählte mit fliegenden Fingern die Nummer von Dr. Wunderbaldinger, sagte ihm, daß ich Kopfschmerzen hätte und daher jetzt nach Hause ginge, und legte auf, bevor er antworten konnte. Ich schaltete das Telefon auf Nachtdienst, riß Mantel und Handtasche vom Haken und rannte hinaus, noch ehe die Kollegen um die Ecke gebogen kamen.

Meine Nackenmuskeln sind seither verspannt und brettersteif. Ich liege seit drei Uhr nachmittags auf dem Sofa, angezogen bis auf die Schuhe. Draußen ist es dunkel. Ich habe kein Licht angemacht, und nur ein blasser Widerschein der Straßenlampen dringt durch die weißen Vorhänge. Die zwei Aspirin, die ich genommen habe, wirken nicht. In meinen Schläfen zucken rostige Drähte.

Langsam zwinge ich mich, die Beine auszustrecken, die Muskeln zu lockern und mich aufzurichten. Ich werde ein heißes Bad nehmen.

~

Angekündigt hat es sich schon vor Wochen, als das Wetter um Neujahr herum mild wurde, fast wie im Frühling. Bis dahin war ich rund um die Uhr beschäftigt, hatte alle Hände voll zu tun, mich neu einzurichten, zurück in Wien, mit einer neuen Wohnung, neuem Job. Abende und lange Nächte in einer sicheren Welt, im China des 17. Jahrhunderts.

Als es um Neujahr herum taute, wurde ich unruhig. Mein Philodendron entrollte ein Blatt. Eine Fliege brummte gegen die Fenster. Es war wie Frühling. Meine Balance kippte. Ich schlief schlecht. Ein Druck sammelte sich hinter meinen Augen, als ob ich heulen wollte. Ich erwischte mich dabei, verliebten Paaren auf der Straße hinterherzustarren. Ich sprang auf und schaltete wütend das Fernsehgerät ab, wenn die Bierwerbung mit unerträglicher Euphorie schwärmte: »Ein schöööner Tag, die Welt steht still - ein schöö ...«

Ich spürte, wie sich meine Lippen bewegen wollten, wenn jemand anderer sprach.

Es fror wieder, dann fiel Schnee. Prompt fühlte ich mich besser. Schlief die Nächte durch. Seither weiß ich aber, was auf mich zukommt. Je näher der Frühling rückt, desto schwerer wird es mir fallen, nicht an letztes Jahr zu denken.

Seit gestern blüht mein kleiner Veilchenstock.

~

Wie lange hinke ich schon? Hat mich jemand dabei gesehen?

Mich gesehen? Soll das ein Witz sein?

Zuckt mein Mundwinkel im Gleichtakt, wenn ich mit Dr. Horvath spreche, dem mit dem Tick? Keuche ich mit, wenn Frau Wirnsteiner schnaufend im dritten Stock ankommt, weil sie ihrer Figur zuliebe auf den Lift verzichtet hat - und habe es bloß nicht bemerkt?

Das heißt, andererseits lebe ich es ja bewußt und gezielt aus. Es ist Teil meines Jobs, andere nachzumachen. Zu meinen Pflichten gehört neben Rezeption und Telefondienst, Postversand und Materialverwaltung auch »nach Möglichkeit« die Mithilfe bei allfälliger Korrespondenz, so gut es meine Zeit erlaubt. Anfangs sollte ich nur bei der allgemeinen Post mithelfen, bei Serienbriefen und dergleichen, aber neuerdings geben mir die Kollegen gern ihre schwierigen Briefe zu schreiben, heikle Dinge, die sorgfältig formuliert werden müssen. Frau Reitmeier nimmt mir manche Routinearbeit ab und geht für mich zur Post, nur damit ich Zeit habe, auch für sie zu tippen. Nicht ohne Grund.

Wenn ich weiß, in wessen Namen ich einen Brief schreiben soll, treffe ich haargenau den Ton, in dem das Schreiben beantwortet werden soll. So, als ob der Chef ihn persönlich diktiert hätte. Gleich nach meiner Einstellung habe ich die Korrespondenzmappen durchgeblättert und mich mit dem Stil jedes Abteilungsleiters vertraut gemacht. Es ist für mich kinderleicht, sie alle nachzumachen.

»Das ist ja eine richtige Begabung«, höre ich von meinen Kolleginnen und Kollegen, »wie machen Sie das nur, daß Sie jedesmal den richtigen Ton treffen?«

Ihr Lob freut mich nicht. Schön wundern würden sie sich, wenn sie wüßten, wie wenig mich ihre Anerkennung freut.

Ich schreibe so problemlos im Stil anderer Leute, weil ich keinen eigenen Stil habe. Ich gehe den Gang von Frau Meisel, mit ihrem weichen Einknicken in der Hüfte, weil ich keinen eigenen Gang habe. Praktisch alle meine Eigenschaften sind abgeschaut, angelernt und völlig zufällig.

Meine Fingernägel wollte ich beim Antritt meiner Stellung lang und lackiert tragen, wie es mir für die Rolle passend schien. Make-up hatte ich geplant, dezent, aber mit Lippenstift. Mit geschmackvollem Seidentuch und schicken Schuhen, ein adretter Anblick beim Empfang. Am Abend vor meinem ersten Arbeitstag brach mir der Nagel meines Mittelfingers ab, und ich kürzte daraufhin alle anderen und rieb sie mit Nagellackentferner ab. Seither trage ich meine Nägel kurz, schminke mich kaum, kleide mich schlicht und bin wegen eines abgerissenen Nagels eine vertrauenerweckende, allürenlose Mitarbeiterin in flachen Schuhen geworden.

Wenn mich jemand anspricht im derben Wiener Dialekt mit schlampigen Endungen und unreinen Vokalen, antworte ich ebenso breit. Wenn gleich darauf das Telefon läutet und Herr Speiser aus Berlin fragt, ob sein Fax gut durchgekommen sei, schaue ich nach dem Faxgerät und sage: »Nee, leider, isses nich´. Das müssense schon noch mal schicken.« Meine Kollegen lachen, wenn sie mich bei meiner Papageiennummer erwischen. Ich lache mit ihnen, aber das ist Camouflage. In Wirklichkeit habe ich keine eigene Sprache und mache nur die von anderen nach. Die Kollegen wissen, daß ich lange im Ausland war, und da wundert es sie nicht, daß ich mehr als einen Akzent plausibel sprechen kann. Sie wissen nicht, daß ich keinen davon spreche, sondern alle nur nachmache.

Als Kind habe ich - offenbar mehr, als andere Kinder das tun - meine Eltern nachgeahmt, die Kindermädchen, die Haushälterinnen. Die Leidensmiene der Mutter, das Zusammenpressen der Lippen, mit dem mein Vater üble Laune signalisierte. Das Zittern der Hände meines Großvaters. Hinkende, Bucklige und Stotternde. »Gloria«, sagten die Eltern, »hör auf, alle Leute nachzumachen.« Ich war überrascht. Bis dahin dachte ich, daß auch die Eltern und Kindermädchen und der Großvater nur andere imitierten. Wirklich, ich war überrascht, als sich plötzlich alle als Originale ausgaben, und ich sollte die einzige Kopie sein?

Und so geht es mir mit allem, immer schon. Ich habe es verabsäumt, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Es ist mir einfach nicht gegeben. Bei mir ist alles blank geblieben. Zwar liege ich stets auf der Lauer, um irgendwelche Eigenheiten von mir zu entdecken, und es gelingt mir hie und da, einen Mosaikstein zu finden, aber meine Fortschritte sind winzig. Fliegendreck auf einer weißen Landkarte. Alle Jahrmillionen schafft es einmal ein Lurch, aus meiner Ursuppe zu kriechen.

Wenn ich mit Freundinnen ins Kino ging und eine fragte mich als erste, wie mir der Film gefallen habe, war es purer Zufall, was als Antwort herauskam: »Toll, ganz phantastisch« konnte es mit genausoviel Überzeugung in der Stimme werden wie: »Gott, ich habe mich zu Tränen gelangweilt.« Ich wußte es nicht.

Daß ich rasch Antworten parat hatte, hieß noch lange nicht, daß ich sie für richtig hielt. Im Gegenteil, da es mir so leichtfiel, beliebige Meinungen als meine eigenen auszugeben, schienen mir die der anderen genauso willkürlich und austauschbar.

Mich verblüffte die Selbstverständlichkeit, mit der Frau Dr. Epstein im Geschichtsunterricht die Gründe für die Bauernaufstände aufzählte. War sie denn dabeigewesen? Englisch erschien mir wie eine sonderbare Kindersprache, selbsterfunden von der Lehrerin. Trotz einiger Indizien, die darauf hinwiesen, daß nicht alles Unsinn war, was uns beigebracht wurde - die Hebelgesetze etwa klangen vernünftig -, glaubte ich herzlich wenig von dem, was in der Schule erzählt wurde. Im Religionsunterricht erwischte ich mich laufend dabei, leise vor mich hin zu lachen: Das war ja nun der Gipfel an Gutgläubigkeit, was man da hörte.

Auch in meinem Äußeren bin ich relativ geblieben. Ich bin weder groß noch klein, dick noch dünn, hell noch dunkel. Was in meinem Paß steht, Besondere Kennzeichen: keine, war noch für niemanden zuvor so zutreffend. Zur Zeit bin ich noch dazu weder alt noch jung, denn mit achtundzwanzig ist man beides ein bißchen, es ist das Alter, in dem die letzten Pickel auf die ersten Fältchen treffen.

~

Meine Kollegen und Kolleginnen im Büro haben nicht ganz unrecht, wenn sie meinen Mangel als Begabung sehen. Ich habe ihn mir im Leben mehrfach zunutze gemacht. Ich bin so unauffällig, daß es mir gelingt, unbemerkt zu bleiben. Mein Umriß scheint vager zu sein als der von anderen Leuten. Man sieht mich nicht genau. Wie ein Tintenfisch kann ich das einsetzen, wenn es mir nützt. Ich kann mich unsichtbar machen. Ich hinterlasse nichts, nicht einmal das Gefühl, da war doch etwas. Blicke gleiten an mir ab. Ich werde nicht als Dasein von Materie wahrgenommen, sondern als Abwesenheit von Luft.

Nützlich war mir das, als ich mit neun Jahren in den Ballettunterricht kam. Bis Mai, hieß es,...
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