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Harte Wahrheit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
246 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am25.05.20181. Auflage
Die behinderte Fotografin Elizabeth Etters erfährt, daß sie schwanger ist. Gleichzeitig erreicht sie die Nachricht, daß ihr Vater im Sterben liegt. Angesichts dieser Ereignisse erinnert sich Elizabeth an ihre Kindheit, die geprägt war vom politischen Engagement der kommunistischen Eltern, an die frühe Polioerkrankung, an ihr Studentinnenleben am Rande des Existenzminimums. Eine Reise nach Spanien, wo der Vater im Bürgerkrieg kämpfte, wird zur Auseinandersetzung mit dem schwierigen Verhältnis zu jenem lieblosen, selbstzerstörerischen Mann. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Anne Finger veröffentlichte 1988 ?Basic Skills?, eine Sammlung von Short Stories, und 1990 die autobiographische Erzählung ?Lebenswert?. ?Harte Wahrheit? ist ihr erster Roman. Ihre literarischen und ihre Sachtexte erschienen in Anthologien und Zeitschriften.
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Produkt

KlappentextDie behinderte Fotografin Elizabeth Etters erfährt, daß sie schwanger ist. Gleichzeitig erreicht sie die Nachricht, daß ihr Vater im Sterben liegt. Angesichts dieser Ereignisse erinnert sich Elizabeth an ihre Kindheit, die geprägt war vom politischen Engagement der kommunistischen Eltern, an die frühe Polioerkrankung, an ihr Studentinnenleben am Rande des Existenzminimums. Eine Reise nach Spanien, wo der Vater im Bürgerkrieg kämpfte, wird zur Auseinandersetzung mit dem schwierigen Verhältnis zu jenem lieblosen, selbstzerstörerischen Mann. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Anne Finger veröffentlichte 1988 ?Basic Skills?, eine Sammlung von Short Stories, und 1990 die autobiographische Erzählung ?Lebenswert?. ?Harte Wahrheit? ist ihr erster Roman. Ihre literarischen und ihre Sachtexte erschienen in Anthologien und Zeitschriften.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105621356
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum25.05.2018
Auflage1. Auflage
Seiten246 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse968 Kbytes
Artikel-Nr.3429392
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2

Mein Vater Jake ist der Augapfel seiner Mutter und seines Vaters. Der roteste, leuchtendste Apfel, den je einer gesehen hat. Seine Mutter verwöhnt ihn, sagt sein Vater. Sein Vater denkt, er selbst verwöhne ihn schließlich schon genug. (Ein Mädchen gibt es auch, Jakes Schwester Eloise.)

Für Jakes Mutter ist das Leben nicht ohne Härte: Aus den Mädchenkammern riecht es nach billiger Pomade, und welche Ausdrücke Jake von den Dienstboten auffängt; die Müllmänner, die einfach hinterm Haus über den Rasen laufen, obwohl sie schon zweimal ihren Aufseher angerufen hat; Gesellschaften, zu denen sie manchmal nicht eingeladen wird; und neue Anwohner, die sie nicht mit dem nötigen Respekt behandeln.

Fast habe ich es vergessen, damals heißt er noch nicht Jake, sondern Jacques, wie seine Mutter ihn genannt hat.

Jacques´ Vater ist Rechtsanwalt. Er hatte noch nie Dreck unter den Fingernägeln, auch kein Blut an den Händen. Er arbeitet nur für Leute, die das haben. Männer mit neuem Geld und großem Ärger kommen in sein Büro, ein Büro, in dem die Ledersessel, wenn einer sich hineinsetzt, knarren: »Wir kennen die Regeln«, und die polierten Holzwände flüstern: »Wir wissen, wie man es macht.«

Jacques baut in seinem Schlafzimmer mit dem Erector-Baukasten Brücken und Hochhäuser. Sein Vater kauft ihm immer neue runde Schachteln voll Aluminiumschienen und Schrauben, und die metallene Stadt voller Türme und weitspannender Brücken, die unbevölkerte Stadt wächst und wächst und wächst.

Jacques will Ingenieur werden. Der Vater erwidert: »Hach. Ach«, ein Laut irgendwo zwischen Lachen und Seufzen. Doch Jacques will es sich nicht noch einmal überlegen.

Jacques segelt problemlos durch die Schule. Mit sechzehn die High-School hinter sich. An dem Tag, an dem er von Detroit nach Cambridge geht, wird er fotografiert. Er steht auf dem Trittbrett der Eisenbahn und winkt. Seine Mutter hat ihm die Pose befohlen - ganz bestimmt -, er macht ein verlegenes Gesicht.

Im Sommer vor seinem letzten Semester am Massachusetts Institute of Technology will er nach San Francisco, ansehen, wie die Golden-Gate-Brücke gebaut wird. Natürlich fährt die ganze Familie hin; solch eine Familie sind sie. Sein Vater hat einen Klienten, der mit dem Ingenieur befreundet ist. (Seine Mutter schmollt. Eigentlich wollte sie nach Mexiko - schließlich fährt Jacques, wenn er mit dem Studium fertig ist, nach Europa.)

Die Brücke ist fast fertig. Jacques sieht zu, wie die schwebenden Straßenteile eingehängt werden. Atemberaubend, wie die Männer sich gemeinsam bewegen. Ein Wunderwerk: als sähe er dem Pyramidenbau zu. Seine Eltern lassen ihn dort allein, ihr Chauffeur soll sie zu anderen Sehenswürdigkeiten fahren. Der Ingenieur unterhält sich mit Jacques wie mit seinesgleichen; die beiden Männer gehen um die Bauhütte herum, der Ältere will dem Jüngeren eine der riesigen Nieten zeigen. Sie stehen am Steilufer, als sie ein seltsames Geräusch hören.

Das Metall stöhnt. Das freischwebende Gerüst ist vom Brückenunterbau losgerissen. Männer fallen und landen im Sicherheitsnetz, doch das Gerüst zerreißt es. Vom Ufer aus sieht es für den Bruchteil einer Sekunde wunderschön aus: das Netz, eine riesige flatternde Fahne, die die Männer abwärts zieht. Ein Mann rudert mit den Armen durch unmöglichen Raum nach dem Arm eines anderen Mannes, der durch den Raum taumelt.

Alles fällt: Das Haus am Lake Shore Drive, die Gärten, der Tee im Cadillac-Hotel, der kommende Sommer in Europa, das leichte Leben, das vor ihm lag, stürzen vor ihm in die Bay, stürmen durchs Golden Gate, auf Nimmerwiedersehen.

Der Ingenieur wird aschbleich. Fünf Minuten steht er da, die Hände halten das Geländer, und schaut über die einsamen Türme, die aus dem kalten, kalten Wasser ragen. Dann hat er viel zu tun. Er ruft die Zeitungen an, redet von Hilfsfonds für die Familien der toten Arbeiter. Persönlich geht er hin und spricht sein Beileid aus, sitzt neben reglosen Witwen, die Tränen kommen ihm. Er fordert eine sofortige Untersuchung, dennoch lautet am nächsten Tag in der Zeitung die Schlagzeile:


ZWÖLF TOTE BEIM ZUSAMMENBRUCH DES GERÜSTS!

Gewerkschaft gibt nachlässigen Sicherheitsvorkehrungen die Schuld.


Jacques liest die Zeitung, einmal und noch einmal. Im Mark-Hopkins-Hotel streiten sich die Eltern, warten, daß er zum Essen herunterkommt; die Mutter nippt am Wein, der Vater trinkt Scotch. Die Mutter sagt, natürlich sei ihr Jacques entsetzt, er sei empfindsam, sie habe es immer gewußt.

Wieder zu Hause, schließt Jacques sich in seinem Zimmer ein und liest - Upton Sinclair, Emma Goldmans Gelebtes Leben, Maxim Gorki. In der Buchhandlung kauft er sich eine Fünf-Cent-Ausgabe des Kommunistischen Manifests. Im Daily Worker liest er über Äthiopier, die in Makale gegen die Faschisten kämpfen, über Angel Herndon, einen »heroischen jungen Negerarbeiter ... verdammt zum langsamen, barbarischen Tod als Kettensklave«. Die Modellstädte der Zukunft verstauben. Er sucht im Telefonbuch nach der Nummer der Kommunistischen Partei, ruft sie an: »Ich werde Mitglied.«

 

Mein Vater fährt im Sommer nach seinem Examen mit dem Schiff nach Europa. Er fährt auf der Normandie über den Atlantik, doch nicht erster Klasse. Er spielt nur noch den Studenten, der in den Sommerferien nach Frankreich reist. Den mitreisenden Männern erzählt er über die Traumstädte, die er nach der Revolution bauen wird; wie die Welt vor Geschäftigkeit summen wird, wenn die Produktionskräfte zum Wohle der Menschheit eingesetzt werden.

 

»Nichts davon«, sagt meine Mutter gern, »nichts davon spielt eine Rolle.« Sie meint ihre Kindheit in Mechanic Falls, Maine. Eine Rolle spielt nur der Tag, an dem sie in Cambridge, Massachusetts, ankommt.

»Auf der einen Straßenseite war eine Buchhandlung. Und auf der anderen Straßenseite war eine andere Buchhandlung. Ich dachte, ich sei tot und im Himmel - zwei Buchhandlungen.«

Ende der dreißiger Jahre leben meine Mutter und mein Vater - sie Radcliffe-Studentin, er Student am MIT - beide in Cambridge, doch sie lernen sich nicht kennen. Ich stelle sie mir manchmal in der gleichen Straßenbahn vor, meine Mutter sitzt, mein Vater steht und hält sich am Haltegurt fest; sie geht an Orten vorbei, an denen er vor einer Viertelstunde war.

Eines Tages bleibt meine Mutter stehen, hört einem linkischen Jüngling zu, der auf einer Kiste steht und etwas über Faschismus schreit; schreit über die Juden in Deutschland; schreit über die Spanische Republik, die von der Welt im Stich gelassen wird; schreit über die Sowjetunion, wo die Menschen ihr Schicksal in die Hand genommen haben.

Meine Mutter hört zu. Eine junge Frau verkauft den Zuhörern in der Menge The Daily Worker. Es ist der 21. Dezember 1937. Ich erinnere mich an das Datum, weil ich genau dreizehn Jahre später geboren werde. Meine Mutter wird mir die Zeitung später zeigen, als ich ihr beim Umzug aus Springfield beim Packen helfe. Sie wird sie mir zeigen und sagen: »Vergiß nicht, manche Leute begreifen nicht.«

 

LYNCHENDE MEUTE STÜRMT STADT IN TENNESSEE. LENIN-GEDENKVERANSTALTUNG IN CHICAGO ERZWUNGEN. HÄNDE WEG VON DER SOWJETUNION. ZU HAUSE:

In vielen Fällen haben Mädchen und Frauen, die sich der Bewegung anschließen, das Gefühl, sie müßten sich vollkommen von ihren alten Beziehungen, ihrem alten Leben lossagen. Sie kleiden sich sehr leger. Sie packen Lippenstift, Puder und Rouge beiseite. Sie setzen eine Baskenmütze auf, ziehen Rock, eine lose Bluse oder Jacke an und kämmen sich morgens das Haar glatt zurück ...

 

Meine Mutter verwahrt diese Ausgabe des Daily Worker zwanzig Jahre, bis sie sie an einem Apriltag, 1957, verbrennt. Nicht wissend, daß das Schlimmste vorbei ist, befürchtet sie, daß ihr das Schlimmste noch bevorsteht, und wirft Stapel ihrer schwarzen Notizhefte, alte Zeitungen und Zeitschriften, die Bücher mit den geprägten Marx- und Leninköpfen auf den cremefarbenen Umschlägen in den Müllverbrenner hinterm Haus in Jefferson und zündet sie mit der Flüssigkeit an, mit der wir auch den Grill im Hof anzünden.

 

Mein Vater sieht verwegen und hübsch aus, unrasiert. Der Junge aus Grosse Point, früher Jacques, jetzt Jake, läßt sich neben den spanischen Bauern fotografieren, die zweimal im Jahr Fleisch essen. Mein Vater ist blond, blondes Haar und klare blaue Augen, so daß jeder ihn für einen deutschen Antifaschisten der Ernst-Thälmann-Brigade hält. Doch mein Vater wird nicht nach Dachau verschleppt; er kehrt in ein Haus in Grosse Point zurück, wo eine schwarze Frau ihre Arme um seinen Hals schlingt. »Lobet den Herrn«, ruft sie und weint an seiner Schulter, tritt einen Schritt zurück, wischt sich die Augen und sagt: »Verzeihung, Mr. Etters.« Das Haus, in dem er aufgewachsen ist, kommt ihm fremder vor als alles in Spanien: die Ulmen, die Dienstboten, der gepflegte Rasen, der Garten, die in dicken Teppichen erstickte Stille.

»Gott sei Dank, die Flausen sind vorbei«, sagt sein Vater. Seine Mutter will wissen, ob er sich in Spanien zum Abendessen umgezogen hat. »Aber du warst doch Offizier«, sagt sie, »die Offiziere haben sich doch sicher zum Abendessen umgezogen.« Seine Mutter hatte gehört, daß die Republikaner gegen den Katholizismus waren, und deshalb erlaubt sie sich ein gewisses Maß an Sympathie. Ignorante Religion aus dem finsteren Mittelalter, die steinerne Götzen...
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