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Die Bahnhofsmission

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
Deutsch
Bastei Entertainmenterschienen am31.05.20241. Aufl. 2024
Berlin, 1945. In der Mission am Schlesischen Bahnhof suchen Flüchtlinge, Traumatisierte, Überlebende Zuflucht. Sie werden von Alice in Empfang genommen, der selbst der Krieg mit seinem Elend nichts von ihrem Idealismus hat nehmen können. Und auch Natalie taucht aus dem Exil wieder auf, zusammen mit ihrer Tochter. Als ein Arzt zu den Helfenden stößt, sind sie zunächst dankbar für sein Engagement. Doch nach und nach wird immer deutlicher, dass den angeblich so Selbstlosen ein dunkles Geheimnis umgibt. Natalies Tochter lässt nicht locker, und schließlich stehen die drei Frauen vor einer schweren Entscheidung ...





Veronika Rusch studierte Rechtswissenschaften und Italienisch in Passau und Rom und arbeitete als Anwältin in Verona und München. Heute lebt sie als Schriftstellerin mit ihrer Familie in ihrem Heimatort in Oberbayern. Neben Romanen schreibt sie Theaterstücke für Erwachsene und Kinder. Für ihre Kurzgeschichte HOCHWASSER erhielt sie 2009 den zweiten Preis im AGATHA-CHRISTI-KRIMIWETTBEWERB.
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Produkt

KlappentextBerlin, 1945. In der Mission am Schlesischen Bahnhof suchen Flüchtlinge, Traumatisierte, Überlebende Zuflucht. Sie werden von Alice in Empfang genommen, der selbst der Krieg mit seinem Elend nichts von ihrem Idealismus hat nehmen können. Und auch Natalie taucht aus dem Exil wieder auf, zusammen mit ihrer Tochter. Als ein Arzt zu den Helfenden stößt, sind sie zunächst dankbar für sein Engagement. Doch nach und nach wird immer deutlicher, dass den angeblich so Selbstlosen ein dunkles Geheimnis umgibt. Natalies Tochter lässt nicht locker, und schließlich stehen die drei Frauen vor einer schweren Entscheidung ...





Veronika Rusch studierte Rechtswissenschaften und Italienisch in Passau und Rom und arbeitete als Anwältin in Verona und München. Heute lebt sie als Schriftstellerin mit ihrer Familie in ihrem Heimatort in Oberbayern. Neben Romanen schreibt sie Theaterstücke für Erwachsene und Kinder. Für ihre Kurzgeschichte HOCHWASSER erhielt sie 2009 den zweiten Preis im AGATHA-CHRISTI-KRIMIWETTBEWERB.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751748186
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum31.05.2024
Auflage1. Aufl. 2024
Reihen-Nr.2
SpracheDeutsch
Dateigrösse994 Kbytes
Artikel-Nr.11549762
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


PROLOG
BERLIN, ENDE APRIL 1945

Die Welt draußen hatte aufgehört zu existieren. Es gab nur noch diese vier grob verputzten Wände, gestampfte Erde unter den Füßen, eine niedrige Decke aus Holzbalken. Darüber seit Tagen nur Kanonendonner, Artillerie, ein dumpfes Grollen, Schüsse, das Geknatter der Flaks. Volkssturm nannte man diese Farce, die vorgab zu retten, was längst verloren war. Tausendjähriges Reich, Endsieg, totaler Krieg. Begriffe, die keinen Sinn ergaben, so laut sie auch hinausgebrüllt wurden in diese schwarz-weiß-rote Welt, in der es nur noch dafür und dagegen gab. Ein Gemetzel ohne Ziel und Verstand. Der Untergang aller Dinge, die einmal schön gewesen waren. Liebe, Glück, Lachen, Freiheit ... nur noch eine blasse Erinnerung an etwas, was einmal gewesen war, irgendwann, irgendwo ...

»Pielst du mit mir?« Das kleine Mädchen mit den blonden Löckchen zupfte Alice am Ärmel. Sie lächelte das Kind dankbar an.

»Ja, lass uns was spielen!«

Elsie schaffte es immer wieder, sie auf andere Gedanken zu bringen. Sogar hier unten in diesem Loch, wo Alice zusammen mit den anderen Bewohnern des Mietshauses und Nachbarn seit Tagen ausharrte, während über ihnen die Apokalypse stattfand. Die Russen hatten die Sperrringe der Wehrmacht bis ins Innere der Stadt überrannt, die Deutschen hatten ihnen nichts mehr entgegenzusetzen gehabt, nachdem sie seit Monaten schon auf dem Rückzug gewesen waren, abgestumpft, entkräftet, tödlich verwundet, Kanonenfutter dieses einen kleinen brüllenden Mannes und seiner Schergen, die die Welt mit ihren geifernden Fieberträumen an den Rand des Abgrunds gebracht hatten.

Elsie hielt ihr einen schäbigen alten Teddy hin, der schwarz von Ruß war und nur noch ein Auge hatte. »Du pielst Fritz. Er ist krank.«

Alice bemerkte, dass Elsie dem Teddy ein Taschentuch um den Hals gebunden hatte. »Oje, was fehlt ihm denn?«

»Nupfen«, sagte die Vierjährige betrübt und wischte sich mit dem Handrücken über ihre eigene Rotznase, was den Rotz allerdings nur verschmierte. Ihr herziges Gesicht mit den blauen Kulleraugen war schmutzig, so wie die Gesichter aller anderen hier unten auch. Man konnte nicht tagelang im Kohlenkeller hausen, fünfzehn Menschen, und dabei sauber bleiben. Alice stellte sich vor, was sie für ein Bild abgeben würden, sollten sie irgendwann wieder ans Tageslicht kommen: Eine Gruppe hohlwangiger, schmutziger Gespenster mit rußigen Gesichtern und angstgeweiteten Augen. Doch im Gegensatz zu so vielen anderen waren sie am Leben. Noch.

»Und wen spielst du?« Alice wusste, dass es in Elsies Spielefundus, den sie in einer alten Kaffeebüchse immer mit sich herumtrug, noch ein Stoffpüppchen, drei Wehrmachtsoldaten aus Lineol und einen kleinen roten Ball gab, auf den Elsies große Schwester Hertha mit Kohle zwei Augen gemalt hatte und dessen Name Franz war. Die Soldaten gehörten ihrem älteren Bruder Alfred, ebenso wie ein Panzerspähwagen aus Blech, der mit einem kleinen Flakgeschütz ausgestattet war. Die Mutter hatte Alfred jedoch verboten, damit zu spielen, und seit von oben unablässig der Lärm der Geschütze ertönte, war Alfred auch die Lust dazu vergangen, Krieg zu spielen. Bei Elsie dagegen hatten die beiden Soldaten kein kriegerisches Leben zu befürchten. Sie spielte Vater, Mutter, Kind mit ihnen, verarztete sie oder setzte sie zusammen mit dem Teddy und dem Ball nebeneinander auf einen herumliegenden Ziegelstein, der sich in ihrer Fantasie in eine Schulbank verwandelte. Dann wurde das Püppchen zur Lehrerin und brachte den gehorsamen Schülern das Einmaleins und das ABC bei, zumindest das, was Elsie davon schon beherrschte oder glaubte, zu wissen. Eine Wand diente dabei als Tafel. Sie war vollgemalt mit Fantasiezeichen, die Zahlen und Buchstaben darstellen sollten, krakeligen Zeichnungen von Bäumen, Blumen, Sonnen und windschiefen Häuschen, die Elsie, die Zunge konzentriert zwischen die Lippen geklemmt, mit einem Stück Kohle malte. Wenn Alice besonders schwermütig zumute war, sah sie sich die Zeichnungen an und betete darum, dass es dem Mädchen vergönnt sein möge, Bäume, Blumen, heile Häuser und die Sonne wiederzusehen. Jetzt hob Elsie ihr Püppchen hoch und sagte zu dem Teddy: »Ich bin Krankenschwester Alice, ich mach dich wieder gesund.«

Elsie wusste, dass Alice als Hilfskrankenschwester im Lazarett gearbeitet hatte, bevor es in der allgemeinen Panik vor den heranrückenden Russen aufgelöst und die Verletzten hastig in vermeintlich sicherer gelegene Krankenhäuser verlegt worden waren. Sie fand das unglaublich spannend, daher imitierte sie sie häufig im Spiel. Wie immer ließ Alice sich auch jetzt gerne von dem kleinen Mädchen in ihre Fantasiewelt entführen. Schniefend und niesend wackelte sie mit dem Teddy hin und her. »Oh, das ist gut!«, erwiderte sie in ihrer schon oft geprobten Teddy-Fritz-Stimme. »Ich fühle mich ganz schwach. Und meine Nase ist zugesperrt. Kannst du sie bitte wieder aufsperren?«

Elsie kicherte. »Die ist doch nicht zugesperrt, Fritz. Das ist der Nupfen. Du musst dich ins Bett legen. Sonst kriegst du Fieber wie Irmchen.«

Alice legte den Teddy auf das Zeitungspapier, das Elsie zum Bett erkoren hatte. »Oh, wie schön!«, seufzte sie mit Fritz´ Stimme. »Das ist sooo gemütlich.«

Elsie deckte den Teddy mit einem weiteren schmutzigen Zeitungsblatt sorgfältig zu. Als Alice dabei unwillkürlich die Schlagzeile darauf las - Tagesbefehl des Führers an die Ostfront: Vor Berlin wird der Feind verbluten! -, vergaß sie für einen Moment das Spiel, und die hilflose Wut, die sie nun schon so lange Zeit mit sich herumtrug, packte sie erneut. Dieser größenwahnsinnige, jämmerliche Lügner und all seine Spießgesellen. In der Hölle zu schmoren war noch zu wenig Strafe für ihn. Ein weiterer kurzer Blick sagte ihr, dass das rußige Zeitungpapier erst vom 17.April stammte. Offenbar hatte jemand Kohlen darin eingewickelt, die er irgendwo ergattert - oder gestohlen - hatte. Ihr entfuhr ein bitteres Lachen. Hatte vor nicht mal zwei Wochen etwa noch irgendein Mensch in diesem zerstörten Land an solche Sprüche geglaubt?

»Du darfst nicht lachen, Alice!«, wies Elsie sie streng zurecht. »Fritz ist doch krank. Das ist nicht lustig.«

»Stimmt«, gab Alice ihr schuldbewusst recht und rief mit Fritz´ Stimme: »Oje, mir geht´s so schlecht. Kannst du mir nicht eine Medizin geben, Alice?«

»Du kriegst jetzt Tropfen, und dann ist der Nupfen gleich weg,« sagte Elsie in einem gewichtigen Tonfall und tat so, als verabreichte sie dem Teddy Nasentropfen, genau wie Alice es gestern Abend bei ihr und ihren Geschwistern gemacht hatte. Alle vier Kinder der Familie Ackermann waren erkältet, am schlimmsten Irma, das kleine Würmchen, das erst acht Monate alt war. Sie greinte und wimmerte die ganze Zeit und hatte fiebrig rote Bäckchen. Trude, ihre Mutter, stillte sie noch, aber weil die Nase so verstopft war, konnte die Kleine nicht richtig trinken und das Fieber schwächte sie und trocknete sie aus. Alice machte sich Sorgen, was passieren würde, wenn sie nicht bald hinauskamen. Die abgestandene, feuchte Luft des Kellers war Gift für Bronchien und Schleimhäute, und wenn Irmchen nicht bald ordentlich Nahrung aufnahm und noch schwächer wurde, konnte es schnell kritisch werden. Trude Ackermann, die Mutter, wusste das ebenso wie Alice und ließ das kleine Mädchen nicht aus den Augen. Tag und Nacht saß sie in der Ecke und hielt Irmchen im Arm, eng an ihre Brust gedrückt, um es zu wärmen, wiegte es und summte ihm leise etwas vor, so auch jetzt. Alice erkannte das Lied »Die Gedanken sind frei«, was von Böswilligen - und solche gab es genug - vermutlich als gefährliche Regimekritik gewertet werden könnte, sofern das jetzt und hier unten noch eine Rolle spielte.

Als hätte er Alice´ Gedanken gehört, meldete sich prompt Hermann Olsen, der einen Zeitschriftenladen im Erdgeschoss ihres Hauses betrieben hatte, zu Wort: »Hörste wohl mit die Gesumms von dem Lied uff? Wenn dit jemand hört!«

»Wer soll dit schon hören?«, antwortete eine Frau aus dem Dunkel einer anderen Ecke. »Höchstens die Ratten. Meenste, da is eene bei, die uns verhaftet?«

Gelächter ertönte. Alice erkannte die Stimme. Es war Wilma Tietze, die Frau des Metzgers in ihrer Straße.

»Lacht nur!«, wehrte sich Olsen. »Ick hab jesehen, wie die SS noch den Jungen von den Kurschattkes aufjehängt hat. Keene zehn Tage ist dit her. Da standen die Russn schon vor der Tür.«

»Ja, und jetzt sind sie da, die Bolschwiken, die wa doch besiegen wollten! Und haben nich mal anjeklopft«, entgegnete Wilma Tietze spöttisch. »Denen ist dit schnurzegal, wat die Trude da singt. Wenn die mit uns fertig sind, kannste uns vom Boden uffkratzen.«

»Die Wehrmacht wird sie zurücktreiben!«, rief eine Jungenstimme, die erkennbar im Stimmbruch war. Sie gehörte Hans, dem dreizehnjährigen Sohn von Alice´ Nachbarin aus dem dritten Stock, Heide Prittwitz. Er war nur mit Gewalt von seiner Mutter dazu zu bringen gewesen, mit in den Keller zu kommen, eigentlich hatte er als Luftwaffenhelfer dem Führer bis zuletzt dienen wollen, doch als Heide ihn im allgemeinen Chaos entdeckt hatte, hatte sie ihm eine Ohrfeige gegeben, die sich gewaschen hatte, und ihn buchstäblich am Kragen heruntergeschleift. Seitdem hockte er murrend auf seinem Platz und haderte damit, nicht als Held sterben zu dürfen.

»Berlin wird deutsch bleiben!«, rief er in einer Tonlage irgendwo zwischen Kieksen und Krächzen, und es klang, als sei er den Tränen nahe.

Wilma Tietze lachte meckernd auf. »Davon träumt er vielleicht, der olle Hitler.«

»So etwas dürfen Sie...

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