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Der Vogel ist krank

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
496 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am22.11.2023
Vor den Wagnissen einer Schriftstellerkarriere hat sich Christian Beck in eine Existenz als Übersetzer von Gebrauchsanweisungen geflüchtet ein Asyl vor dem eigenen Leben. Doch wie lange kann man sich aus dem Leben heraushalten? Als seine langjährige Freundin todkrank wird, will sie heiraten aber nicht ihn.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextVor den Wagnissen einer Schriftstellerkarriere hat sich Christian Beck in eine Existenz als Übersetzer von Gebrauchsanweisungen geflüchtet ein Asyl vor dem eigenen Leben. Doch wie lange kann man sich aus dem Leben heraushalten? Als seine langjährige Freundin todkrank wird, will sie heiraten aber nicht ihn.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257613872
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum22.11.2023
Seiten496 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1082 Kbytes
Artikel-Nr.11849631
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


»Der Vogel ist krank.« Eines Morgens, es ist noch früh, aber schon drückend schwül, die Hitze von Wochen brütet in der kleinen Wohnung, wird Christian Beck mit diesen Worten von seiner Frau geweckt. Sie trägt ihr weißes Nachthemd, das sie mit zwölf auch schon hatte.

Immer und überall ist Beck auf der Hut vor Gefahr, obwohl er nicht weiß, von welcher Seite sie kommen wird; darum hat er einen leichten Schlaf. Seine Frau hat sich nicht anstrengen müssen, ihn zu wecken, ein Flüstern von ihr war genug, das Wort »krank«. Beck weiß, daß der Tod am liebsten zuschlägt, wenn man ihn nicht erwartet; um ihm, dem Tod, ein Schnippchen zu schlagen, hat er beschlossen, ständig auf ihn gefaßt zu sein. Etwas in ihm ist gestorben, er wartet darauf, daß der Rest ebenfalls stirbt, so daß alle Teile sich wieder im gleichen Zustand befinden, oder - das geht natürlich auch - daß der erstorbene Teil zu neuem Leben erwacht, wie ein gelähmter Arm, der sich plötzlich wieder bewegt. Er gibt die Hoffnung nicht auf, er kann nicht anders. Wenn es etwas Verrücktes an ihm gibt, dann ist es seine Hoffnung, darum hat er beschlossen, sie zu unterdrücken, zuviel Hoffnung ist lebensgefährlich. Doch völlig auslöschen läßt sie sich nicht. Wie bei einer Mutter, die einem Reporter auf Fragen nach ihrem verschollenen Sohn immer wieder antwortet: »Schreiben Sie, daß ich glaube, er lebt, schreiben Sie, daß ich das ganz sicher weiß.«

Beck weiß, daß er lebt. Er setzt sich auf, erinnert sich dunkel an seinen Traum von dem Übersetzungsbüro, in dem er arbeitet. Davon träumt er öfter. Das Wort »krank« ist hängengeblieben. Krank, ein Wort wie ein Klopfen an der Tür, das er schon vor Monaten erwartet hat, erstaunt, daß sie ihn erst jetzt festnehmen. Er weiß seine Leichtfüßigkeit zu wahren. »Sie haben lange gebraucht, meine Herren.«

Er sieht das angsterfüllte Gesicht seiner Frau, sie drückt ihre Nase kurz an seine; dieses Gesicht kennt er gut, besser als sein eigenes. Wie oft hat er es nicht betrachtet - »studiert« müßte man eigentlich sagen? Genauso gut kennt er das Nachthemd, ihre Haare. An einem Nasenflügel klebt, wie so oft um diese Zeit, ein Rest Nachtcreme, doch die Angst ist neu. Die Angst verzerrt ihr Gesicht.

 

Christian Beck übersetzt Gebrauchsanweisungen aus dem Englischen ins Deutsche, Gebrauchsanweisungen für Staubsauger, Autos, Drucker, Fotokopierer, Roller mit Hilfsmotor. Er ist ein geschätzter Übersetzer, denn er ist gewissenhaft und zuvorkommend. Im Büro arbeiten sie zu sechst, inklusive der Koordinatorin.

Manchmal sagt ein Übersetzer: »Ich habe Geburtstag, ich hab Kuchen in die Küche gestellt.« Zwischen zwei Gebrauchsanweisungen geht Beck dann in die Teeküche, schneidet sich ein Stück ab, auch wenn er eigentlich keinen Appetit darauf hat, und gratuliert dem Geburtstagskind herzlich. Fast immer gibt er sich Mühe, noch ein paar harmlose persönliche Fragen zu stellen. Und wenn er selbst Geburtstag hat, sagt er: »Ich hab Geburtstag, in der Küche steht Kuchen.«

Der Wechsel unter den Kollegen ist groß, die meisten bleiben nicht länger als ein Jahr, höchstens anderthalb, für sie ist das Übersetzen von Gebrauchsanweisungen eine Durchgangsstation. Beck arbeitet schon seit über zehn Jahren dort. Einmal hat man ihm angeboten, Koordinator zu werden, doch das hätte bedeutet, länger zu arbeiten, mehr Verantwortung zu übernehmen, dafür allerdings auch mehr zu verdienen. Er hat freundlich abgelehnt.

Die Übersetzer haben eine Erklärung unterschreiben müssen, mit der sie für alle aus Übersetzungsfehlern entstehenden Unfälle die Haftung übernehmen, doch das ist nicht der Grund für Becks Gewissenhaftigkeit. Er ist schlicht der Meinung, daß Menschen ein Recht auf ordentliche Gebrauchsanweisungen zu ihren Geräten haben. Wenn er merkt, daß ein neuer Kollege hudelt, sagt er: »Nimm dir Zeit, wir werden pro Stunde bezahlt, nicht pro Wort.«

Daß er nie etwas von sich erzählt, fällt niemandem auf, es verleiht ihm auch nicht den Nimbus eines mysteriösen, geheimnisvollen Mannes, denn er ist, was er zu sein vorgibt: ein glücklicher Mensch, mit wenig zufrieden. Mit wenig ein glücklicher Mensch zu sein ist genau wie Tennis oder Billard spielen eine Frage der Übung. Er hat lange geübt, und zu guter Letzt ist es ihm gelungen. Ohne Bemühung von Gott, Meditation oder seltenen Kräutertees. Solche Hilfsmittel benutzen, so findet Beck, nur Betrüger. Er betrügt nicht, er will dem Abgrund ohne Netz und doppelten Boden begegnen.

Manchmal, eher selten, geht er mit ein paar Kollegen nach der Arbeit noch ein Bier trinken. Er ist weniger sauertöpfisch, als man denken sollte, wenn man ihn über seinen Gebrauchsanweisungen sitzen sieht. Er ist vor allem unaufâfällig, doch in seinem Fall ist das eine bewußte Entscheidung. Ein gewisses Maß von Unscheinbarkeit ist eine Bedingung des Glücks.

Beck betrachtet das Gesicht seiner Frau, ihre dunklen Augenbrauen, ihre Haut - er ist ein Mann, den Haut fasziniert, ihre Flecken, die kleinen Unreinheiten, die Schuppen, die unerwünschten Härchen, doch auch ihre Weichheit, die Wärme, der Schweiß, die Poren, die sich bei Hitze öffnen. Seine rechte Hand kriecht über die Ablage neben dem Bett, auf der Suche nach seiner Brille, als sehe er noch nicht genug, als wolle er noch mehr sehen. Er riecht seine Frau, er riecht ihr Deodorant, das einen ziemlich durchdringenden Geruch hat, an warmen Tagen kann er ihn oft fast nicht ertragen, doch macht er nie eine Bemerkung deswegen. Es ist sinnlos, alles auszusprechen, was man denkt, man ruft Ideen ins Leben, die besser nie hätten geboren werden sollen. Streitereien, die ausufern, ein Wort gibt das andere, jemand greift zu einer Gabel oder einem Schraubenzieher, und wozu? Es bringt nichts.

Die Arbeitszeiten im Übersetzungsbüro sind angenehm, von zwölf bis fünf Uhr nachmittags. Doch oft verläßt Beck das Haus schon um halb zehn. Seine Frau arbeitet an einem wissenschaftlichen Projekt, und das tut sie seit ein paar Jahren zu Hause. Er will sie nicht stören: Er geht spazieren, er liest etwas in der Stadtbibliothek, bei schönem Wetter im Park. Zuerst hatte sie ein Arbeitszimmer an der Universität, doch dort war es ihr zu laut, und am Fachbereich liefen Leute herum, die sie nicht ausstehen konnte. Schwatzhafte, oberflächliche Kolleginnen, damit konnte man leben, aber die am Fachbereich hatten den ganzen Tag über nichts anderes zu tun, als zu klagen. Darum beschloß sie, ihr Projekt zu Hause zu Ende zu bringen.

Es hat mit Experimenten zum Spracherwerb von Tieren zu tun, sie reden selten darüber. So wie sie auch nicht über Gebrauchsanweisungen reden. Sie haben andere Gesprächsthemen. Was sie teilen, ist nicht ihre Arbeit - sie teilen den Geruch des anderen, seine Vergangenheit, das Bett, die Einsamkeit, letzteres vielleicht noch mehr als alles andere. Einsamkeit teilt man schweigend, ein gewisser Fatalismus kommt über einen, man weiß, daß die eigene Isolation nicht weiter aufgebrochen werden kann als diese paar Risse, man hat die Grenzen des Sich-Begegnens erreicht, näher wird der andere einem nie kommen; näher ist eine Illusion, näher wäre gefährlich.

Die Menschen erwarten oft - zu Unrecht -, daß ihre Beziehung, der geliebte Mensch, ihrer Einsamkeit ein Ende bereitet. Beck und seine Frau hegen keine diesbezüglichen Erwartungen, eigentlich erwarten sie nur wenig voneinander, auch das teilen sie. Was Beck bei einer Frau sucht, ist Rührung, obwohl er das erst spät gemerkt hat. Keine Befriedigung, keine demonstrativ und überschwenglich geäußerte Liebe, keine Bestätigung - was sollte auch bestätigt werden, er selbst? Nein, Bestätigung sucht er nicht mehr, und das Mysteriöse interessiert ihn auch nur noch mäßig. Das alles ist schön für den Augenblick, doch nur von Rührung kann man länger zehren. Was Beck sucht, ist vielleicht auch Unschuld, und nicht nur bei der Frau. Es ist die Unschuld, die ihn rührt, manchmal so sehr, daß er gegen Tränen ankämpfen muß, doch das bekommt niemand zu sehen, weder den Kampf noch die Tränen. Genau wie Ideen, die, einmal ausgesprochen, sich verselbständigen, so weiß er, können auch enthüllte Gefühle mächtiger werden, als für die Betreffenden gut ist. Liebe beruht auf hundert Prozent Disziplin, wie Massenmord und Fabrikarbeit, sie besteht darin, den eigenen Gefühlen nicht nachzugeben, sondern dagegen anzukämpfen. Menschen, die ihre Gefühle nicht beherrschen können, sind unberechenbar und gemeingefährlich.

So könnte man Christian Beck einen Unschuldssucher nennen, einen Sammler von Unschuld, so wie jemand anders Schmetterlinge sammelt. Er nährt sich von der Unschuld anderer, und seine Melancholie rührt von der Erkenntnis, daß seine Nahrung immer weniger wird, was er nicht zuletzt sich selbst zuzuschreiben hat.

 

Während er das angsterfüllte Gesicht seiner Frau betrachtet und ihren schweißnassen Kopf vorsichtig mit der linken Hand festhält, kann er den Gedanken nicht unterdrücken, daß er die Ursache ihrer Krankheit ist. So wie er sich selbst krank gemacht hat. Irgendwo muß eine Krankheit ja herkommen, aus ihm kriechen sie wimmelnd hervor, die Krankheiten, wie Würmer unter einem Stein.

Beck nennt seine Frau seit Jahren, eigentlich schon seit sie sich kennen, »Vogel« oder »Vögelchen«. Irgendwann hat sie sich angewöhnt, von sich in der dritten Person zu sprechen. Vor allem in glücklicheren und intimeren Momenten. »Der Vogel kauft schnell noch ein paar Flaschen Wasser«, kann sie zum Beispiel sagen. Eine Gewohnheit, die ihn genauso rührt wie die Tatsache, daß...
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Autor

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.