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Blauer Montag

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
368 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am23.08.2023
Die Geschichte eines jungen Mannes aus jüdischem Elternhaus, der nicht weiß, wo er hingehört: zur zweiten Generation der Holocaust-Opfer oder zur ?Generation Nix?. Dessen Schulkarriere ein frühes Ende nimmt, weil er lieber mit Freundin Rosie durch Kneipen und Cafés zieht. Der, als Rosie ihn verlässt, es bald nur noch in der gekauften Nähe von Prostituierten aushält und sich dem Alkohol hingibt.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextDie Geschichte eines jungen Mannes aus jüdischem Elternhaus, der nicht weiß, wo er hingehört: zur zweiten Generation der Holocaust-Opfer oder zur ?Generation Nix?. Dessen Schulkarriere ein frühes Ende nimmt, weil er lieber mit Freundin Rosie durch Kneipen und Cafés zieht. Der, als Rosie ihn verlässt, es bald nur noch in der gekauften Nähe von Prostituierten aushält und sich dem Alkohol hingibt.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257614244
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum23.08.2023
Seiten368 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1004 Kbytes
Artikel-Nr.12165131
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Mein Vater handelte mit Briefmarken - jedenfalls dachten das meine Mutter und ich. Meine Mutter erzählte mir einmal, daß sein Vater eine Drogerie gehabt hatte, so einen fahrbaren Laden auf einem kleinen Handwagen. Der Mann zog den ganzen Tag lang mit seinem Karren durch Berlin. »Und eines Tages fand man ihn tot auf seinem Wagen«, sagte sie, »aber das war nicht die SA, das war sein ewiger Neunundneunziger-Fusel.« Und gleich darauf fuhr sie fort: »Meine Eltern dagegen hatten ein Möbelgeschäft - später sogar zwei -, und dafür haben wir nicht einen Cent gekriegt, nicht einen einzigen.«

In Düsseldorf wohnten wir in einem Hotel, an dessen Außenmauer ein Gedenkstein angebracht war: »Hier verlebte der junge Dichter Heinrich Heine glückliche Jahre.« Davon mußten sie natürlich ein Foto machen, mit mir davor. Der konnte einem wirklich auf die Nerven gehen, dieser Heinrich Heine.

Als ich noch auf der Grundschule war, begleitete ich meinen Vater manchmal auf seinen Reisen. Er blieb nie lange weg, immer nur ein oder zwei Tage. Im Zug aßen wir Brötchen, die er selbst mit koscherer Wurst belegt hatte. Doch nichtkoschere Wurst aßen wir auch, und viele heiße Waffeln und Gebäck. Das war genauso gut wie warmes Essen, fand er. Er traf sich mit Leuten in Kneipen. Es war warm. Ich trug meine kurzen Hosen.

Mein Vater hatte eine Halbglatze. Die Leute hielten ihn immer für meinen Großvater und fragten: »Na, heute mal mit Opa unterwegs?« Wir gingen in eine Kneipe, und da saß der Mann, mit dem er verabredet war. Auch alt und auch mit Glatze. Sie tranken ein paar Wodka, und ich bekam ein Eis. Immer nur Eis. Sie redeten stundenlang. Mein Vater wollte nie verraten, was er mit diesen Glatzköpfen besprochen hatte. Danach gingen wir auf die Kirmes und aßen Bratwürstchen. So ein Bratwürstchen würde Gott uns schon nicht übelnehmen, meinte mein Vater. Gott vielleicht nicht, aber dafür meine Mutter. Und abends gingen wir wieder in eine Kneipe, da trafen wir noch so einen Ergrauten. So einen, der in einem schlechten Film Gott spielen könnte. Wieder kippten sie ein paar Wodka. Mein Vater wurde wütend. Wenn er sich aufregte, fielen ihm seine strohigen Haare immer ins Gesicht - er hatte sie sehr lang wachsen lassen, um die kahle Stelle auf seinem Kopf zu bedecken. »Auf bessere Zeiten«, riefen sie auf deutsch. Mein Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, doch niemand beachtete ihn. Das taten dort alle (mit der Faust auf den Tisch schlagen, meine ich). Es ging um den Majdanekprozeß. Oder mal wieder um den jungen Dichter Heinrich Heine. War doch alles das gleiche. Meine Mutter dachte, daß wir mit Sammlermarken handelten, doch ich hatte keine einzige Briefmarke gesehen. Ich fragte ihn, ob schon alle verkauft wären, doch er wollte mir nichts sagen. Auch meiner Mutter nicht. Er sagte bloß: »Jeder hat so seine Geschichte, auch die Dummen und Unwissenden.«

Zum Frühstück bekam ich heiße Schokolade, zu Hause bekam ich die nie. Einmal standen wir bestimmt eine Stunde in der Fußgängerzone und hörten einem Mann zu, der Ziehharmonika spielte.

In Brüssel waren wir auch einmal. Dort sahen wir einen Unfall. An einer Ampel überfuhr ein Lastwagen einen Opa mit Spazierstock. Es ging wie in Zeitlupe. Der Fahrer hatte ihn beim Anfahren nicht gesehen. Mein Vater schwenkte noch die Arme und rief: »Stop, stop!« Doch der Fahrer achtete nicht auf ihn und fuhr einfach über den alten Mann drüber. Zum Zugucken konnten wir nicht dableiben, denn wir mußten wieder in irgend so eine Kneipe, wo ein anderer alter Mann auf meinen Vater wartete. Es waren immer Kneipen, in denen nur alte Männer herumsaßen, sogar die Kellner waren Tattergreise. Und die Ventilatoren, die sich langsam drehten, nutzten auch nichts.

In Brüssel gab es keine Kirmes. Ich durfte übrigens nie Achterbahn fahren, denn da bekam es mein Vater mit der Angst zu tun. Dafür durfte ich schießen, aber das war nicht meine Stärke. Mein Vater traf immer ins Schwarze. Einmal schoß er mir einen Teddybären, doch was sollte ich mit so einem Bären? Wenn wir in die Kneipen gingen, hatte er immer eine Plastiktüte von Albert Heijn bei sich. »Wichtige Dinge trägst du am besten in Plastiktüten mit dir herum«, sagte er immer. Manchmal mußten wir auf die anderen alten Männer warten, die genau wie mein Vater nach Knoblauch stanken. Ich wollte nicht zu ihnen auf den Schoß, denn ich trug meine kurzen Hosen, und ihre Hosen kratzten wie verrückt. Genau wie ihre Wangen.

Einmal sollten wir Heringe für einen alten Mann in Düsseldorf mitbringen. Wir waren früh aufgestanden, damit mein Vater bei seinem Lieblingshändler neben der Börse noch schnell zehn Heringe besorgen konnte. Es war so ein Tag, an dem jeder sich am liebsten in eine Wanne mit eiskaltem Bier gesetzt hätte. Mein Vater trug eine Sonnenbrille. Später im Zug flachste er mit zwei Mädchen herum, die bei uns im Abteil saßen. Kurz hinter Oberhausen begann es im Abteil nach Hering zu stinken. Mein Vater legte die Tüte mit den Heringen ins Gepäcknetz. Auf Reisen trug er immer ein schwarzes Fläschchen mit goldenem Stopfen bei sich. Darin war Kölnischwasser oder etwas, das so ähnlich roch. Er nahm das schwarze Fläschchen aus seiner Brusttasche und besprenkelte damit die Abteilwände. Die Mädchen schlugen sich auf die Schenkel vor Vergnügen, und auch mein Vater hatte seinen Spaß. Außer dem Fläschchen hatte mein Vater auch immer ein Buch dabei. Es war immer dasselbe, ein Englischlehrbuch. Es war das abgegriffenste Ding, das ich je gesehen hatte, und daß er es nie verloren hat, ist mir ein Rätsel, denn sonst verlor er auf diesen Reisen so ziemlich alles. Sogar mich verlor er ein paarmal. Kurz vor Düsseldorf war die Luft in unserem Abteil trotz Kölnischwasser nicht mehr zum Aushalten. Er holte die Zwiebeln, die sauren Gurken und die Heringe aus seiner Tasche. Dann ließ er die Mädchen daran riechen, schnupperte auch selbst noch einmal daran und warf das Ganze aus dem Zug. Das Abteil muß noch tagelang gestunken haben wie eine Heringstonne.

Mein Vater erzählte: »Bei uns in der Familie aßen früher alle aus einem Topf, und vor dem Essen machten sie das Licht aus, damit jeder die Chance hatte, was abzukriegen. Manchmal mußten sie ja die Suppe aus dem Fleischgeruch von letzter Woche kochen.«

Als ich zwölf war, hörten diese Reisen plötzlich auf, oder vielleicht durfte ich auch nicht mehr mit.

 

Nach dem Tod meines Vaters fanden wir tatsächlich ein Schließfach voller Briefmarken, aber nicht so viele, wie wir gedacht hatten. Wir brauchen jetzt bis an unser Lebensende keine Briefmarken mehr zu kaufen, egal, in welchem Land wir uns befinden. Meine Mutter hat mir verboten, sie zu benutzen. Sie sollen ziemlich wertvoll sein, doch warten wir es erst mal ab. Zwanzig Pferde hatte er auch noch, stellte sich heraus. In Berlin. Eine Reitschule für Behinderte, erstanden im Jahr 1965. Zuerst dachte ich, mein Vater hätte die Pferde gekauft, damit wir alle mal gemeinsam ausreiten könnten, aber das war ein abwegiger Gedanke, denn ich konnte mir weder meinen Vater, meine Mutter, noch mich oder meine Schwester auf einem Pferd vorstellen. Meine Mutter fiel aus allen Wolken. »Was soll ich denn mit zwanzig Pferden!« rief sie. »Als ob die Briefmarken nicht schon genug wären!«

Die Reitschule haben wir dann verkauft. Ein Notar hat alles geregelt. »Jedes Jahr mußte Geld reingepumpt werden«, sagte er, »kein Mensch kam mehr in die Reitschule, keine Menschenseele. Es ist mir ein Rätsel, warum Ihr Vater sie nicht schon viel früher abgestoßen hat.« Wir bekamen fast nichts dafür, niemand wollte die Pferde haben. Später hörten wir, daß auch eine Menge Ponys dabeigewesen waren - war wohl einfacher für die Behinderten beim Aufsteigen -, und ich sagte meiner Mutter: »Jetzt kannst du singen: Ich hab noch zwanzig Pferde in Berlin.« Fand sie gar nicht komisch.

Früher fuhren wir oft nach Berlin. Wir hatten da eine Tante im Altersheim, und die besuchten wir fast jeden Sommer. Dann wohnten wir auch dort. Ein ganzer Sommer im Altersheim! Und die Sommer in Berlin können heiß werden. Dann starben die Leute im Heim wie die Fliegen. Jeden Nachmittag ging die versammelte Familie in die Konditorei und stopfte sich mit Torte voll. Ich auch. Schon wegen dieser Torte hätten meine Eltern seinerzeit von mir aus gern in Berlin wohnen bleiben können. Manchmal fuhren wir auch an den Wannsee. Wenn meine Mutter nicht hinsah, aßen mein Vater und ich eine Bockwurst mit Kartoffelsalat aus einer von diesen großen Regentonnen. Wahnsinnig fett, aber das Leckerste, was ich je gegessen habe. Tantchen war auch dabei. Mit ihrem Sonnenschirm, um ihre Haut zu schützen.

Für Vaters Beerdigung mußten wir extra nach Israel, wo meine Schwester wohnt. In Amsterdam konnten wir ihn nicht begraben, weil meine Schwester nicht mehr fliegen durfte. Sie war im neunten Monat. Jeden Moment konnte es soweit sein - da kamen wir eben mit der Leiche zu ihr. Über Rom, denn es gab keinen Direktflug an dem Tag, und es mußte schnell gehen.

Endlich landeten wir auf dem Ben-Gurion-Flughafen; wir waren den ganzen Tag unterwegs gewesen. Meine Mutter rief dauernd: »Ich hab ihn umgebracht, ich hab ihn umgebracht«, bis ich sagte: »Jetzt hör endlich auf, sonst bring ich dich um.«

Wir saßen in der Ankunftshalle. »Wo ist der Sarg mit meinem Mann?« fragte meine Mutter. »Kommt gleich«, sagten sie, »wir können ihn ja schlecht mit dem normalen Gepäck rausschicken.«

Wir warteten. Zusammen mit meiner Schwester. Eine Stunde, zwei Stunden. Sie brachten uns Kaffee. Noch eine...
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Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.