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Winter der Lügen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am02.11.20161. Auflage
Die Bewohner des Mietshaus stehen vor einem Rätsel: Warum will der Hausmeister Pär Lindholm niemanden ins Zimmer der verschwundenen Vermieterin Agda Wallin lassen? Und weshalb hat man seit Wochen nichts mehr von der Alten gehört? Sie bleibt spurlos verschwunden, woran der Winter mit seinem Schnee nicht ganz unschuldig ist, denn der verbirgt eine Leiche und damit auch Pärs Geheimnis. Bis ihm schließlich eine Bewohnerin auf die Schliche kommt ... »Kühl, präzise und mit fanatischer Detailgenauigkeit, dabei fast wortkarg, analysiert die Autorin das Sterben der inneren Natur des Menschen, das einhergeht mit dem der Gesellschaft, in der er lebt.« Die Welt

Kerstin Ekman, 1933 in Risinge (Östergötland) geboren, zählt zu den wichtigsten schwedischen Autorinnen unserer Zeit. Ihr umfangreiches literarisches Werk ist vielfach preisgekrönt, es wurde verfilmt und in 28 Sprachen übersetzt. Mit Wolfslichter kehrt Ekman nach über zehn Jahren zur Romanform zurück. Das Buch stieg in Schweden mit Erscheinen auf Platz 1 der Bestsellerliste ein und wurde u.a. mit dem Norrlands litteraturpris 2022 sowie dem Kulturpreis der Stiftung Natur & Kultur 2023 ausgezeichnet. Am 27. August 2023 feiert Kerstin Ekman ihren 90. Geburtstag.
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Produkt

KlappentextDie Bewohner des Mietshaus stehen vor einem Rätsel: Warum will der Hausmeister Pär Lindholm niemanden ins Zimmer der verschwundenen Vermieterin Agda Wallin lassen? Und weshalb hat man seit Wochen nichts mehr von der Alten gehört? Sie bleibt spurlos verschwunden, woran der Winter mit seinem Schnee nicht ganz unschuldig ist, denn der verbirgt eine Leiche und damit auch Pärs Geheimnis. Bis ihm schließlich eine Bewohnerin auf die Schliche kommt ... »Kühl, präzise und mit fanatischer Detailgenauigkeit, dabei fast wortkarg, analysiert die Autorin das Sterben der inneren Natur des Menschen, das einhergeht mit dem der Gesellschaft, in der er lebt.« Die Welt

Kerstin Ekman, 1933 in Risinge (Östergötland) geboren, zählt zu den wichtigsten schwedischen Autorinnen unserer Zeit. Ihr umfangreiches literarisches Werk ist vielfach preisgekrönt, es wurde verfilmt und in 28 Sprachen übersetzt. Mit Wolfslichter kehrt Ekman nach über zehn Jahren zur Romanform zurück. Das Buch stieg in Schweden mit Erscheinen auf Platz 1 der Bestsellerliste ein und wurde u.a. mit dem Norrlands litteraturpris 2022 sowie dem Kulturpreis der Stiftung Natur & Kultur 2023 ausgezeichnet. Am 27. August 2023 feiert Kerstin Ekman ihren 90. Geburtstag.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492983129
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum02.11.2016
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1319 Kbytes
Artikel-Nr.2132617
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1  Wenn sie hinfällt, bleibt sie liegen, pflegte Pär Lindblad zu sagen und mit seinem Zigarillo einen Kreis zu beschreiben, um ihre Leibesfülle anzudeuten. Es war schon recht bemerkenswert: Sie war so dick, daß sie nicht allein aufstehen konnte.

Wie sieht sie nackt aus, Päron? Stimmen wie Fleischfliegen um ein großes Freßpaket. Das, was die Welt von ihr sah, waren ihre dunkle Kleidung - riesige Stoffmassen an Röcken, die immer locker saßen, Pullover und saubere, hochgeschlossene Blusen -, der Kopf mit dem schütteren, straff gekämmten Haar und dem Zopfkringel im Nacken. Und die Augen.

Päron, du betreust sie doch, du mußt sie wohl auch noch waschen, was? Wie, zum Kuckuck, sieht sie aus?

Davon erzählte er nie. Er brachte nie die Sprache darauf. Sechsundsiebzig, das ist altes Fleisch. Sie bestand nur aus Fett und Kopf, und niemand hätte aufgrund einer Beschau ihres Körpers oder einer Durchdringung ihres klaren Schädels sagen können, wie alt sie war. So viel hätte Pär erzählen können, daß ihre Korpulenz sie nicht deformierte. Eher hatte sie neue, außermenschliche Formen angenommen. Manchmal konnte er schwören, daß sie nicht aus Fleisch, sondern aus einer synthetischen Schwammasse bestehe.

Über das andere Thema ließ er sich jedoch oft und gern aus: Sie bleibt einfach liegen. Im vorigen Sommer lag sie eines Tages vor dem Herd, als ich nach Hause kam. Sie hatte schon seit Stunden dort gelegen. Sie hochzuwuchten dauerte eine Viertelstunde.

Sie hatte dagelegen und ruhig gewartet, wie abgekoppelt von der Entsetzlichkeit ihrer Lage. Es war nichts gebrochen. Sie war über den Plastikteppich vor dem Herd gestolpert, fand aber nicht, daß es sich gelohnt hätte zu schreien, jedenfalls nicht lange. Also wartete sie.

Pär sprach jedoch nie von ihren Augen. Er konnte über diesen unbeweglichen, abwartenden Blick nicht reden, den sie hatte, wenn sie hilflos war. Er war empfindsam.

Jetzt verließ sie das Haus kaum noch. Die einzige Fahrt, die sie noch unternahm, ging einmal jährlich zu einer Schwester in der Kolarby-Gegend. In diesem Jahr war sie zweimal gefahren, weil ihre Schwester vor Weihnachten ins Altersheim kommen sollte und es einiges zu regeln gab. Stets regelte sie alles für die Leute, und was sie selbst betraf, so war vom Altersheim nicht die Rede.

Wie immer begleitete Pär sie nach Kolarby und sah zu, daß sie in den Bus kam und nirgendwo stolperte. Die reguläre Fahrt hatte sie im Juni gemacht. Jetzt war es November, und wenn es nicht schneefrei gewesen wäre, hätte sie es nicht vom Bus bis zum Häuschen ihrer Schwester geschafft. Der Weg, den die Milchwagen nahmen, war zu lang, doch gab es einen kurzen und ganz ebenen Pfad durch den Wald zur Landstraße.

Auf dem Rückweg ging er hinter ihr und paßte auf, daß sie nicht hinfiel, während sie dahinwackelte. Es war so eine Sache, alte Weiber zu betreuen. Ihre Schwester hatte ein bißchen geheult, als sie zwischen ihren gepackten Sachen saß, und der Besuch hatte sich in die Länge gezogen. Jetzt schlurften sie langsam durch den Wald, und dabei erzählte er jemandem von dieser Tour.

»Du glaubst es nicht, aber das alte Aas wollte den Weg durch den Wald nehmen, obwohl wir noch eine halbe Stunde Zeit hatten, bis der Bus abfuhr. Agda, hab ich gesagt, jetzt hör mir mal zu -« Das hätte er zu ihr sagen können. Er übte die Geschichte ihrer Fahrt nach Rotbol in Kolarby ein. Es war nicht sicher, ob er sie je vor Zuhörern zum besten geben würde. Aber durchs Erzählen wurde alles besser. Das war ihm schon oft aufgefallen: daß alles besser wurde, wenn er es erzählte, während es passierte.

Sie blieb stehen, nicht abrupt, denn das konnte sie nicht, und er dachte zuerst, daß sie etwas betrachten wolle. Es gab aber nichts zu sehen. Der Boden war nadlig und voller Eisflecken und abgetretenen Kiefernwurzeln. Die Tannen sahen tot aus: graue Bartflechten und nadellose, spitze Zweige. Hoch oben in den Kronen saß noch Grün, und dort strich fern und kalt der Wind. Pär mochte den Wald nicht. Unruhig trat er von einem Bein aufs andere, denn seine feinen Schuhe hatten dünne Sohlen. Da sah er, daß ihr Blick starr war.

»Wie blaß du mit einem Mal bist«, sagte er.

Sie richtete den Blick auf ihn, und ihr Körper neigte sich vor.

»Mir ist übel.«

Er holte ein Zigarillo hervor und steckte es sich in den Mund. Nachdem er es angezündet hatte, fand er, daß der Wald sowohl den Duft als auch den Geschmack ansauge.

»Wir müssen hierbleiben. Mir geht s nicht gut.«

Er wünschte, sie hielte die Klappe. Er wurde so gereizt, daß er um sich schlagen wollte, weil sie, während er gemächlichen Schrittes dahinging und erzählte, was gerade passierte, etwas sagte oder weil etwas geschah, was überhaupt nicht dazugehörte. Es war, als rührte man mit groben Gerätschaften in etwas Zerbrechlichem.

Doch sie schwieg jetzt lange, und da sie weder gingen noch sprachen, hörte er, wie der Wald mit großer Lunge spitz atmete.

»Ruhig Blut«, sagte er. »Der Bus fährt uns nicht davon. Allerdings ist das jetzt wohl das letzte Mal, denn in deinem Alter kannst du das doch nicht alle Jahre machen, verdammt noch mal. Ich merk selber -«

Er war einundvierzig.

»- wie das zehrt.«

»Sei still.«

Er hatte keine Lust gehabt, überhaupt etwas zu sagen. Wenn sie doch bloß weitergegangen wäre! Aber sie stand nach wie vor vornübergebeugt da. Zwischen den borstigen Härchen auf ihrer Oberlippe saßen Schweißtropfen. Ihre Augen bewegten sich nicht. Langsam und deutlich sagte sie: »Du mußt Hilfe holen. Jetzt sofort.«

Er trat leicht von einem Bein aufs andere, denn er fror. Es schien, als hätte sie Angst, den Körper zu bewegen. Sie folgte ihm lediglich mit den Augen, und ganz automatisch ging er ein paar Schritte rückwärts. Da schloß sie die Augen und streckte die Hand nach ihm aus. Diese war weicher und schlaffer denn je, und als sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seinen Arm sinken ließ, wäre er beinahe umgefallen. Sie leckte sich die Lippen und schob sich vorsichtig rückwärts an das riesige Wurzelwerk eines umgestürzten Baumes. Als sie endlich saß, das Wurzelwerk als Stütze im Rücken, stöhnte sie auf. Angeekelt sah er, daß ihr etwas aus dem Mundwinkel lief. Sie versuchte zu spucken, um sich des Aufgestoßenen zu entledigen, und er trat ein paar Schritte zurück. Unwillkürlich schloß er die Augen.

Jetzt sitzt sie, wo sie sitzt, dachte er. Im selben Moment mußte sie das gleiche gedacht haben, denn er bemerkte wieder diesen abgekoppelten und gleichzeitig tief konzentrierten Blick, den sie immer hatte, wenn sie nicht allein aufstehen konnte.

»Hast du nicht gehört?«

Er hatte vergessen, das Zigarillo aus dem Mund zu nehmen, sonst hätte er schon längst gefragt, was mit ihr los sei.

»Du sollst Hilfe holen. Sofort.«

Er konnte nichts dafür, daß er diesen Blick nicht mochte. Und nur deshalb trat er ein paar Schritte zurück. Daß sie dies als eine Weigerung auffassen konnte, kam ihm gar nicht in den Sinn, so gewohnt war er es, ihr zu gehorchen.

»Pär«, sagte sie, und ihre Zunge kam immer wieder zwischen den Lippen hervor, während er den Blick nicht von diesem Streifen abwenden konnte, der ihr aus dem Mund lief, »du wirst jetzt Hilfe holen, hörst du, was ich sage?«

Jetzt sitzt sie, wo sie sitzt. Ihr braucht nicht einmal etwas zu fehlen. Wenn ich jetzt wegginge, würde sie nie hochkommen. Sie würde einfach dasitzen, bis - ja. Dasitzen würde sie. Sie schafft es nicht ohne mich. Sie schafft nichts ohne mich.

Ihr rechter Arm war nach einer leichten Gehirnblutung im August, die ebenfalls mit Übelkeit begonnen hatte, immer noch nicht richtig beweglich.

Ihr Blick blieb fest, schafsgeduldig. Hätten sich ihre Zunge und ihr Mund nicht so rasch bewegt, dann hätte er ihren Schrecken nicht begriffen und wäre auch nicht davon angesteckt worden.

»Hol Leute. Welche, die tragen können.«

Tragen. Sie, Agda, tragen!

»Eine Trage.«

Sie dachte stets praktisch. Wahrscheinlich befürchtete sie, daß die Anstrengung, mit seiner Hilfe aufzustehen und den Pfad entlangzugehen, ihr Ende wäre. So kalt und praktisch war sie. Doch voller Angst. Ja, das verstand er.

Daß er noch ein paar Schritte zurücktrat, beruhte wohl vor allem darauf, daß er kalte Füße hatte, doch sie vermutete etwas anderes. Sie sprach jetzt wie besessen.

»Du wirst nun tun, was ich sage. Du gewinnst nichts dabei, wenn du es nicht tust. Hörst du? Nichts!«

Sie versuchte, deutlich zu sprechen, doch blubberte ihr der Speichel zwischen den Lippen, und sie brachte nur ein Genuschel zustande. Ihn ekelte das alles an, aber das konnte er nicht sagen, und sie glaubte, es sei etwas anderes. Sie traute ihm offensichtlich nicht, niemandem traute sie.

»Was dir mal zukommen soll dafür, daß du mir all die Jahre geholfen hast, das wirst du kriegen«, sagte sie. »Später. Das habe ich versprochen. Aber schau, es gibt nichts Schriftliches. Noch nicht. Du gewinnst also gar nichts. Nicht? Was würde aus dir werden? Begreifst du denn nicht - was würde aus dir werden?«

Ihr Gesicht war beim Reden rot angelaufen. Ihr Kopf schlug nach hinten gegen die gefrorenen Erdklumpen und verfilzten Wurzeln des Wurzelwerks. Sie schloß jetzt die Augen und atmete tief und angestrengt. Er ging zu ihr, kniete sich vor sie hin und versuchte, sie bei der Hand zu fassen. Ihre Rechte war völlig schlapp. Er sprach sie an, schrie sie an, bekam jedoch nur das immer tiefer werdende Atmen zur Antwort. Sie schnappte mit einem Geräusch, das ihn erschreckte, nach Luft.

Sie war jetzt bewußtlos, und er mußte eilends Hilfe holen. Wenn es wenigstens in der Stadt passiert wäre! Der...
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Autor

Kerstin Ekman, geboren 1933 in Risinge (Östergötland), gilt als eine der wichtigsten skandinavischen Gegenwartsautorinnen. Ihr umfangreiches literarisches Werk ist vielfach preisgekrönt, es wurde verfilmt und in 28 Sprachen übersetzt. Am 27. August 2023 feiert sie ihren 90. Geburtstag.