Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Stadt aus Licht

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
592 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am09.07.2013Auflage
Ann-Marie, Mutter der 17jährigen Elisabeth, kehrt nach vielen Jahren aus Portugal nach Schweden zurück. Während des Wartens auf ihre verschwundene Tochter erinnert sie sich wichtiger Stationen ihres Lebens.

Kerstin Ekman, 1933 in Risinge (Östergötland) geboren, zählt zu den wichtigsten schwedischen Autorinnen unserer Zeit. Ihr umfangreiches literarisches Werk ist vielfach preisgekrönt, es wurde verfilmt und in 28 Sprachen übersetzt. Mit Wolfslichter kehrt Ekman nach über zehn Jahren zur Romanform zurück. Das Buch stieg in Schweden mit Erscheinen auf Platz 1 der Bestsellerliste ein und wurde u.a. mit dem Norrlands litteraturpris 2022 sowie dem Kulturpreis der Stiftung Natur & Kultur 2023 ausgezeichnet. Am 27. August 2023 feiert Kerstin Ekman ihren 90. Geburtstag.
mehr

Produkt

KlappentextAnn-Marie, Mutter der 17jährigen Elisabeth, kehrt nach vielen Jahren aus Portugal nach Schweden zurück. Während des Wartens auf ihre verschwundene Tochter erinnert sie sich wichtiger Stationen ihres Lebens.

Kerstin Ekman, 1933 in Risinge (Östergötland) geboren, zählt zu den wichtigsten schwedischen Autorinnen unserer Zeit. Ihr umfangreiches literarisches Werk ist vielfach preisgekrönt, es wurde verfilmt und in 28 Sprachen übersetzt. Mit Wolfslichter kehrt Ekman nach über zehn Jahren zur Romanform zurück. Das Buch stieg in Schweden mit Erscheinen auf Platz 1 der Bestsellerliste ein und wurde u.a. mit dem Norrlands litteraturpris 2022 sowie dem Kulturpreis der Stiftung Natur & Kultur 2023 ausgezeichnet. Am 27. August 2023 feiert Kerstin Ekman ihren 90. Geburtstag.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492957625
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum09.07.2013
AuflageAuflage
Reihen-Nr.4
Seiten592 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3107 Kbytes
Artikel-Nr.1385962
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Vor ein paar Jahren fuhr ich heim, um ein Haus zu verkaufen. Ich saß im Zug und blickte auf den düsteren Fichtenwald. Ich sah die Seen und die Schlösser, die sich darin spiegeln. Es ist eine schöne Landschaft, doch die Schönheit endet etwa eine Meile* vor der Stadt meiner Kindheit. Der Wald wird dicht, die Böden mit Erlen und Weidengestrüpp versauern zu Moor. Wenn sich die Kiefernheiden öffnen, liegt sie da und in ihr, wie die Rückengräte in einem aufgeschlitzten Strömling, die Eisenbahn. Auf platten Feldern erstreckt sich die Bebauung einiger Jahrzehnte. Sie ist wie andere Ortschaften, die ich kurz zuvor gesehen hatte, die vorbeizogen und in die Zeit und den Wald zurückgedrängt wurden.

Sie beginnt mit Baracken und Stapeln von arsenikimprägniertem Holz. Dann kommen langgestreckte Werkstattgebäude und Mietshäuser mit Flecken im Putz. Wenn das alte Postgebäude mit den Laubgirlanden aus Zement unter dem schadhaften Reichswappen vorübergleitet, mache ich gewöhnlich die Augen zu. Manchmal wünsche ich mir, daß die Stadt in einen Schacht des Vergessens sänke, in ein altes Grubenloch in meinem Innern, das sich langsam mit Wasser füllte.

Einst war hier nichts als Wald und graue, schiefe Katen. Zwischen Laggs und lichter Kiefernheide öffnete sich ein Haferfeld. Ein Kiesrücken, den ein Eiszeitfluß hinterlassen hatte, lag wie ein großer Körper mitten in der Landschaft. Noch hatte kein Weg ihn durchschnitten. Ich versuche mir immer vorzustellen, daß da keine Schienen und kein Bahndamm wären, niemals gewesen wären, daß gepflügte Haferparzellen und braunschimmernde Weiden zum Vorschein kämen, wenn die lange Krankheit des Winters überwunden wäre. Daß Menschen in \Vagen auf gewundenen Wegen dahinschaukelten und daß es still wäre, still. Misthaufen und offene Gräben. Hundegebell und Kirchenglocken, die man weithin hörte. Die Veränderungen in jedem Jahr so gering, daß man sie kaum merkte. und überall diese Stille, von der ich nicht viel wissen kann. Vielleicht stank sie beißend und unverhohlen. Ja, Stille und stete Wiederkehr müssen es gewesen sein. Bis die Eisenbahnschienen wie ein Band hämmernder, scheuender Zeit durch die Landschaft gelegt wurden.

Man begann Bauholz zu transportieren. Behauenen Stein. Eisenträger. Ziegel. Von Hand bearbeitete Sparren. Auch Sprossenbänke und Deckenrosetten aus Gips. Die Schienen dröhnten und sangen unter den Güterwagen, wie seitdem immer. Seltsam. sich vorzustellen, daß es entlang der Bahnlinie nicht einmal während der schlimmsten Schneestürme ganz still gewesen ist. Immer hat sich im Schneegeflimmer und Aufblitzen der Laternen ein Zug bewegt. Langsam stampfend hat er sich mit den ausgebreiteten gewaltigen eisernen Schwingen des Pfluges vorangearbeitet. Der erste Zug, der auf dieser Strecke abfuhr, hatte die Endstation noch nicht erreicht, als auch schon dem nächsten freie Fahrt gegeben wurde. So ist das weitergegangen, ohne Unterlaß. Die Zeit kennt keinen Aufenthalt, auch nicht für eine einzige schneeige Weihnachtsnacht.

Menschen waren mit Koffern und Bündeln nach Göteborg gefahren, um zu emigrieren. Beamte waren bei Häuseransammlungen auf lehmigen Äckern ausgestiegen, um daraus Gemeinden zu machen. Die Leute waren fortgereist, um zu arbeiten oder zu heiraten, und heimgereist, um um Verzeihung oder Geld zu bitten oder um jemand zu beerdigen. So, wie ich heimfuhr, um das Haus zu verkaufen. Nach einigen Jahren ist es vergessen. oder Nutzen und Bedeutung dieser Reise sind ebenso schwer auszumachen wie die der meisten anderen.

Jungen waren zwischen den Stationen in Erster-Klasse-Abteilen schwarzgefahren. Hat Fredrik mir das erzählt? Als Jenny und er frisch verlobt waren, fuhren sie, einfach so, eine Meile weit weg. Das hat sie erzählt. Sie wollten nur allein sein. Sie gingen auf dem Gleis zurück und ließen einander die ganze Zeit nicht los. Sich vorzustellen, daß Jenny und Fredrik sich beim Gedröhn des Göteborgzuges, der hellerleuchtet und nach Eisen riechend an ihnen vorbeidonnerte, nachdem sie die Böschung hinabgeschlüpft waren, mit vor Kälte schmerzenden Lippen küßten!

Tora Otter erzählte, daß ein Mann aus dem Kirchspiel Vallmsta eines Abends im Dezember, als er auf der Bahnstrecke heimging, dem Erlöser begegnete. Er war aus Guttersboda und hatte im Ort eine Versammlung besucht. Gottes Sohn kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen, und er brauchte natürlich nicht auf den Abstand zwischen den Eisenbahnschwellen zu achten, die von einer dünnen Eisschicht überzogen im Sternenlicht glänzten. Unmittelbar bevor sie sich trafen, löste sich die Gestalt auf. Sie verschwand wie eine Eisblume auf einer Fensterscheibe, wenn man ihr mit seinem heißen und eifrigen Atem zu nahe kommt. Guttersboda-Petter war auf die Knie gefallen, mußte jedoch wieder aufstehen und seine Schritte mühsam jedem Stück ölbeflecktem Schotter, der zwischen den einzelnen Holzschwellen lag, anpassen.

Diese Begegnung bekam für niemand außer Petter und seine nächste Umgebung eine besondere Bedeutung.

Das, was die Orte entlang der Bahn verändert hat, dürfte die Materie sein, die damit transportiert worden ist: all das gehobelte Holz und die von Hand bearbeiteten Sparren, der behauene Granit, die Porzellanklosetts und Himmelbetten haben ihr Teil zu der Veränderung beigetragen. Menschen, die sich nie begegnet wären, hätte man die Gleise nicht verlegt, vermischten sich auf Sofas und in Betten.

Die ersten, die sich um den Bahnhof herum niederließen, verdienten ihren Lebensunterhalt mit dem Elementarsten: sie verkauften Essen und Getränke. Die allererste war Banvalls-Brita, die an die Tiefbauarbeiter Essen und Branntwein verkaufte. Es heißt. sie habe sie gegen Bezahlung auch ihren Körper benutzen lassen. Schon da kam es zu Vermischungen. Leute, die ich kenne, stammen davon ab. Womöglich gehöre ich selbst dazu. Über meine Vorfahren weiß ich nur bis zur Großelterngeneration etwas. Wenn sie von den Hofstellen rings um Vallmsta gekommen wären, hätte ich das gewußt.

Ich glaube, sie kamen mit der Eisenbahn. Stiegen aus und sahen sich um. Stellten Bündel und Taschen ab und erkundigten sich nach einem Nachtquartier. Wollten wissen, wo man einen Happen zu essen bekommen könnte. Balancierten durch lehmige Radspuren und klopften an fremde Türen. Sahen im Schein eines Wachsstocks oder einer Öllampe nach, ob es Wanzen gab. Schlummerten ein und schliefen unruhig. Wachten auf und fanden, daß das Trinkwasser im Eimer ungewohnt schmeckte. Nicht einmal die Milchsuppe schmeckte wie zu Hause. Dann lebten sie hier, schlecht und recht. Warum sie hierherkamen, werde ich wohl nie erfahren.

Nach den Inhabern der Wirtschaften, Bierkeller und der rollenden Bahnhofsrestauration kamen die höheren Bahnbediensteten. Sie stelzten in prächtigen Uniformen im Lehm umher. Besaßen ein Reitpferd und ein Klavier, bauten Veranden. Das Bahnpersonal holten sie vom Acker. Ein Hufschmied. der kam um das Pferd des Stationsvorstehers zu beschlagen. erwies sich als mechanisches Genie; er hatte einen Pferderechen konstruiert. Es kam noch ein Mann mit dem Zug, hungrig nach Ehre und Geld, und kaufte mit geliehenen Mitteln Wald auf dem Stock. Er verfrachtete Sparren und Grubenholz mit der Eisenbahn. Des weiteren verkaufte er für den Hufschmied. der jetzt Fabrikant geworden war und eine mechanische Werkstatt eingerichtet hatte, Pferderechen. Der Holzhändler baute ein Lagerhaus, und dort stapelte er Sprossenstühle und Deichseln und Schneeschaufeln, die in der Schreinerei hergestellt worden waren. Diese war von einem großen, griesgrämigen Mann gegründet worden, der eine glückliche Hand für Geld hatte, so daß es immer mehr wurde. Jetzt nannte er sich Holzwarenfabrikant.

Danach, meint man, sei nichts geschehen, außer daß alles größer und komplizierter wurde. Wenn man die Nähfabrik nicht zählen will. Es war mein Schwiegervater, der aus Västergötland hierherkam und sie gründete. Er wurde in drei Jahrzehnten wohlhabend und machte im vierten Konkurs. Der Großhändler mit dem Lagerhaus hatte ein Imperium aufgebaut, das weiterhin expandierte und bis in die fünfziger Jahre hinein scheinbar blühte, bis es plötzlich zusammenfiel. Die Organisation war veraltet und das Personal zu zahlreich.

Die Werkstatt des Hufschmiedfabrikanten ging in einer großen schwedischen Exportfirma auf. Deren Werksgebäude liegen meinem Haus gegenüber. Wie morsch dieses Unternehmen ist, weiß niemand. Man sieht das von außen nicht. Sie haben aber angefangen, zeitweilig Leute zu entlassen. Wenn sie damit fertig sind, gibt es diese Stadt nicht mehr. Es wird Gebäude, Neon, Asphalt, kommunale Grünflächen und Stopplichter geben, Leute, die einander Benzin verkaufen, Administratoren und Auszahler, so viele wie einst in der riesigen Firma des Großhändlers, Leute, die einander die Haare legen und die Füße behandeln, Leute, die pflegen, putzen, sammeln, operieren, Rohre verlegen, psychoanalysieren, Telefongespräche vermitteln und Summen in Supermarktkassen eintippen. Wenn jedoch niemand etwas produziert, was mit der Eisenbahn verschickt werden kann, ist es aus, sagt man. Und es fragt sich, ob es nicht bereits aus ist, obwohl die Farben leuchten und die Motoren lärmen.

Errichteten sie denn wirklich sonst nichts, diese Menschen, die seit zwölf Dezennien hier leben? Eisen, Kies, Holz und Öl - ist das die ganze Stadt?

Als die langen Lagerhäuser, unter deren Dächern Tauben hocken, vor so langer Zeit gebaut wurden, geschah dies, um verwahren zu können, was magaziniert werden mußte. Die Tauben aber glaubten, daß die Stadt für sie erbaut worden sei, und sie bewohnen sie weiterhin, und ihrem Glauben hat bis heute nichts widersprochen.

Die Menschen bauten ihre Eisenbahn, weil sie sie brauchten, und die Eisenbahn bräuchte die Stadt, und die Stadt...
mehr